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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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mich musterte, sofort an, dass mein steifer Aufzug ihr nicht gefiel. Ihre perlmuttbraunen Augenlider verdeckten zunächst die Wimpern, doch dann glitten sie zu den Brauen hin hoch. Oder zu den Resten davon. Denn dort, wo sie einmal gewesen sein mussten, waren nur noch zwei mit schwarzer Farbe gezogene Striche. Ich streckte meine Hand aus, sie wirkte größer als sonst.
    »Agnes Kruse, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Ihre neue Sekretärin.«
    Zuerst starrte die Frau auf die Hand in der Luft, dann auf meine Schuhe. Dabei waren Herrenschuhe so ungewöhnlich nun auch wieder nicht. Jedenfalls standen diverse Paare in einer ordentlichen Reihe hinter ihr. Sie räusperte sich.
    » Sie sind Frau Kruse?«
    »Fräulein Kruse.«
    Ich reagierte etwas zu schnell. Die Bluse klebte bereits an meiner Haut. Meine Hand fühlte sich sehr schwer an.
    »Oh, verstehe«, sagte sie, doch sie sah nicht so aus. Ihr Gesicht war fast ebenso farblos wie ihr Haar, und sie schien etwas sagen zu wollen, das eines längeren Anlaufs bedurfte. Ihre beiden Vorderzähne standen auffallend weit auseinander.
    »Ich weiß nicht, ob Sie diejenige sind, mit der ich neulich am Telefon gesprochen habe … über die Memoiren?«, beeilte ich mich zu fragen, während ich mit einem Fuß wippte, nur ein ganz klein wenig, wie Paula es geliebt hatte. »Das lässt Sie so charmant aussehen!«, hatte sie gelacht, als wir uns das erste Mal begegnet waren, doch die Dame vor mir bürstete nur eine unsichtbare Staubfluse von ihrem knielangen Rock.
    »Ja, Sie haben mit mir gesprochen.«
    Ihre Hand war ein Bund Eiszapfen, als sie meine schließlich drückte. Verblüffend fest in Anbetracht, wie schmächtig die Frau war. Mager nahezu. Selbst unter der lose sitzenden, zugeknöpften Bluse ahnte man ihr vorstehendes Schlüsselbein.
    »Sie können mich Frau Hansen nennen«, sagte sie, was ich bereits wusste. Am Telefon hatte sie ganz eindeutig entgegenkommender geklungen, vor allem als ich erwähnte, dass ich sofort mit der Arbeit beginnen könnte. Doch das war immer die gleiche Geschichte. Ich bekam reichlich Arbeitsangebote, bis die Leute mich dann sahen. Doch schließlich trat Frau Hansen einen Schritt zurück, sodass ich an ihr vorbeigehen konnte. Ich stand ganz still und traute meinen eigenen Augen nicht.
    »Sie können Ihren Mantel an den Haken links hängen.«
    »Vielen Dank.«
    »Und gegen ein Glas Sherry haben Sie doch bestimmt nichts einzuwenden?«
    Ich würde meinen, dass es auf diese Frage mehr als eine Antwort gab, doch Frau Hansen war bereits auf dem Weg in die Küche. Sie nickte dabei in Richtung Wohnzimmer, das zur Rechten lag, und bat mich, auf den dunklen Velourmöbeln Platz zu nehmen. Alltagsmöbel nahm ich an. Sie blickten auf einen kleinen Balkon mit ein paar weiß gestrichenen Stühlen und einer Reihe dunkelroter Rhododendronpflanzen in Töpfen. Mein Herz setzte einige Schläge aus. Von hier aus konnte man auf das Kinderheim heruntersehen, und der Pflaumenbaum war noch immer da. Er musste jetzt drei Stockwerke hoch sein, wenn nicht höher. Unten liefen Kinder herum. Kinderheimkinder. Gesindelkinder. Du darfst dich nicht um diese Stelle bewerben, Agnes, das darfst du einfach nicht.
    »Fräulein Kruse?«
    Frau Hansen schien schon eine Zeit lang dort gestanden zu haben. Direkt hinter mir, mit zwei Gläsern Sherry in den Händen, und jetzt reichte sie mir eines davon. Sie sah mir direkt in die Augen.
    »Kennen Sie die Gegend?«
    Sie drehte sich um und reichte mir einen Teller mit einem gelben Stück Kuchen. Der bloße Anblick ließ meine Zunge im Mund anschwellen.
    »Ja, ich habe hier gewohnt, als ich klein war.«
    Ich stellte den Teller etwas zu fest auf den Wohnzimmertisch. Sofort schossen Frau Hansens Augenbrauen in die Höhe.
    »Interessant. Wo haben Sie denn gewohnt?«
    Der Sherry war fast schwarz. Er brannte auf der Zunge. Wir setzten uns jede auf die Kante unseres Stuhls, während ich sagte, dass ich mich an die Hausnummer nicht erinnern könnte. Es war so lange her, nicht wahr, aber es war schon eine nette Gegend, ich hatte gerne hier gewohnt.
    »Wirklich?«
    Sie sah zu dem Kinderheim hin, und ich beeilte mich zu fragen, ob es ihre Memoiren waren, die ich ins Reine schreiben sollte. Lag bereits ein Entwurf vor, den ich bearbeiten konnte? Frau Hansen wurde sehr still. Sie sah zur Tür und räusperte sich.
    »Es ist … etwas komplizierter, Fräulein Kruse«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie können damit leben. Es verhält sich nämlich so, dass

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