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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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…«
    Irgendwo in der Wohnung fiel etwas um und zerbrach, jemand fluchte laut. Ein Mann mit einer tiefen Stimme, der es gewohnt war, seinen Willen zu bekommen.
    »Karen! KAREN !«
    Die Stimme zitterte. Frau Hansen war bereits auf den Beinen. Sie hatte jetzt rote Flecken auf den Wangen, doch ihr Blick war fest wie zuvor.
    »Entschuldigen Sie mich bitte, Fräulein Kruse«, sagte sie über die Schulter. Sie war wahrscheinlich in Lillemors Alter, doch ihre Bewegungen waren weitaus schneller. Wie die eines Tiers, dachte ich. Frau Hansen war offensichtlich eine Dame, die es gewohnt war, auf der Hut zu sein.
    »Was machst du denn, mein Lieber?«, hörte ich sie fragen, sobald sie die Tür zur Diele hinter sich geschlossen hatte. Ich stutzte. Ihre Stimme hatte eine ganz neue Wärme, eine Süße, um genau zu sein. Ich konnte sie ganz und gar nicht mit der Frau Hansen in Verbindung bringen, die mir gerade noch mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenübergesessen und Ansätze gemacht hatte, mich auszufragen.
    »Karen?«
    »Ja, ich bin hier. Hast du dir etwas getan? Zeig mir einmal deine Hand.«
    Der Mann murmelte etwas, das sie zum Lachen brachte.
    »Warte, ich hole ein Pflaster.«
    Ein paar Türen öffneten und schlossen sich. Meine Füße hatten Schwierigkeiten stillzustehen. Ich wollte mich schon zur Tür schleichen, um besser sehen zu können, was dort draußen vor sich ging, doch stattdessen drehte ich mich um und nahm das Wohnzimmer in Augenschein. Irgendetwas fehlte. Oder vielleicht ist fehlte nicht das richtige Wort. In diesem Wohnzimmer waren mehr Bücher, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Sie bedeckten die längste Wand bis zur Decke und reichten bis zur Tür. Auf dem Boden lagen Teppiche, die so kostbar zu sein schienen, dass man sie kaum zu betreten wagte. Ich sah von den Ziertischchen mit den königlichen Porzellanfiguren zu den Wänden, die ein paar abstrakte Gemälde schmückten. Es war offensichtlich: In einem Heim wie diesem hätte es viele Porträtaufnahmen geben müssen. Von mindestens drei Kindern und sieben Enkelkindern, fotografiert als Schulkinder, Konfirmanden, Soldaten, Braut und Bräutigam, vielleicht mit ihren Sprösslingen, vielleicht bereits unter diversen Ehrentoren. Wenn sich die Gelegenheit bot, vertiefte ich mich immer in diese Art Familienbilder, doch hier gab es nicht ein einziges. Nicht einmal von Frau Hansen und ihrem Mann, der sich anscheinend gerade verletzt hatte.
    »Was ist mit mir passiert?«, hörte ich ihn draußen fragen, und jetzt wunderte ich mich. Selbst ich hatte mir ausgerechnet, dass er sich geschnitten haben musste, und genau das sagte Frau Hansen ihm jetzt auch.
    »Aber ich blute doch, Karen!«
    »Ja, ja, aber jetzt bekommst du ein Pflaster. Gleich ist alles in Ordnung.«
    Schnell griff ich mit Daumen und Zeigefinger nach dem Kuchenstück, lief auf den kleinen Balkon hinaus, beugte mich vor und ließ es hinunterfallen. Wenn die Kinder dort unten Glück hatten, landete der Kuchen als Ganzes. Dann eilte ich zurück zu meinem Stuhl, auf dem ich die ganze Zeit hätte sitzen sollen. Ein Vogel landete direkt vor dem Fenster auf einer Meisenkugel. Mir kam der Gedanke, dass sicher oft jemand hier saß und die Vögel beobachtete, denn der Stuhl stand genau im richtigen Winkel, und über der Rückenlehne hing eine dicke Decke. In einem geflochtenen Korb auf dem Boden, genau zwischen dem Sofa und einem anderen Stuhl, lag auch ein Strickzeug. Ich konnte sie nahezu vor mir sehen: das ältere, kinderlose Ehepaar, das vollkommen damit zufrieden schien, in seinen vielen Büchern zu lesen.
    »Entschuldigen Sie die Störung.«
    Frau Hansen schloss ruhig die Tür hinter sich. Ich musste einfach den Blick bewundern, mit dem sie mich bedachte. Sie sah aus, als wäre nichts passiert, doch ihre Hände verrieten sie. Sie zitterten ein ganz klein wenig, als sie Sherry in unsere Gläser nachschenkte.
    »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon erzählt habe, dass Ihre Aufgabe hier … ein wenig speziell ist«, sagte sie. Ich fühlte mich plötzlich unsagbar müde. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, waren noch mehr spezielle Aufgaben, als ich ohnehin schon hatte. »Was heißt speziell?«
    »Nun ja, speziell in mehrerer Beziehung, glaube ich.«
    Der gestreifte Hosenstoff kratzte, als ich die Hände um das eine Knie faltete. Frau Hansen blickte lange auf den Sofatisch.
    »Möchten Sie nicht noch ein Stück Kuchen, Fräulein Kruse? Sie haben Ihres ja bereits aufgegessen.«
    »Nein. Nein,

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