Das Turmzimmer
vermutlich auch. Soweit ich sehen konnte, lagen dort mehrere Seiten und warteten auf mich. Doch als ich danach greifen wollte, legte sie ihre Hand auf meine.
»Glaubst du, dass es sich lohnt, an Daphne du Maurier zu schreiben und sie um Antonias Teil der Korrespondenz zu bitten?«, fragte sie. Meine ehrliche Antwort lautete Nein, und das hätte ich ihr auch so sagen sollen, doch in diesem Moment wollte ich in erster Linie in Ruhe lesen.
»Versuch es.«
»Ja, nicht?«
Sie ließ mich mit ihren eng beschriebenen Seiten allein.
Es ist merkwürdig. Ich hatte mir vorgestellt, dass das Aufschreiben von Nellas Geschichte mich ihr sehr nahebringen würde. Doch in Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Ich habe mich ihr erst wirklich nahe gefühlt, nachdem sie beschlossen hat, mir die Geschichte zu erzählen, nach der zu fragen ich nicht einmal die Fantasie gehabt hatte.
Wiedersehen mit einer Fremden
Am liebsten würde ich Nellas Geschichte sofort wiedergeben. Ich habe sie auch schon genau so abgeschrieben, wie Nella sie aufgeschrieben hat, und in den letzten Tagen konnte ich an nichts anderes denken als an Nella, die mit Bella genau hier, wo wir wohnen, Fangen gespielt hat. Doch so gerne ich das auch möchte, muss ich warten, Nellas Geschichte mit Ihnen, lieber Leser, zu teilen, denn auf ihre eigene Weise greift sie dem vor, was ich in den Wochen, die ich als Sekretärin im Vodroffsvej arbeitete, herausgefunden habe. Und ehrlich gesagt brenne ich schon eine ganze Zeit lang darauf, Ihnen diese Geschichte zu erzählen.
Man muss sich einmal vorstellen, dass das schon sechs Jahre her ist! Ohne dass ich es bemerkt habe, ist vor meinen Fenstern Sommer geworden. Als Nella neulich mit meinem Frühstückstablett hereinkam mit dem nicht trinkbaren Gebräu, das richtigen Kaffee niemals wird ersetzen können, hat sie die Fenster weit aufgemacht. Damit ich die Vögel hören kann , hat sie gesagt. Ich glaube eigentlich, dass die Vögel die meisten ihrer Lieder für dieses Jahr bereits gesungen haben. Das Grün im Park ist bereits ebenso dunkel wie das der Baumkronen in der Frederiksberg-Allee an jenem Augustmorgen 1936, an dem ich zu Fuß von der Pension Godthåb zum Vodroffsvej ging.
Obwohl der Gang weniger als eine halbe Stunde dauerte, lagen Welten zwischen der bescheidenen Pension am einen Ende von Frederiksberg und dem herrschaftlichen Gebäude am anderen. Es türmte sich vor mir auf, die Haustür hatte seltsame Ähnlichkeit mit einer Himmelspforte. Oder aber der Anblick vermischte sich nur mit meinen Eindrücken aus der Zeit, als wir gottesfürchtigen Kinderheimmädchen zum Spazierengehen geschickt wurden. Ich konnte das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen war, nahezu vor mir sehen. Vor genau dieser Haustür. Vielleicht hat es den Kopf in den Nacken gelegt, um sich besser vorstellen zu können, wie es sein musste, dort oben hinter den großen Fenstern mit den Balkonen zusammen mit einer richtigen Mutter und einem richtigen Vater zu wohnen. Ich musste mehrmals blinzeln, damit das Bild wieder verschwand. Während meiner Kindheit hat Lillemor mir verboten, hierher, in diese Straße zu gehen. Ich höre ihre Worte noch immer in meinem Kopf. Du darfst dich nicht um diese Stelle bewerben, Agnes, das darfst du einfach nicht. Sie hat immer versucht, mich vor den ersten Jahren meines Lebens zu beschützen, meine liebe Lillemor. Das dachte ich auch, als ich die Haustür aufstieß.
Innen war das Gebäude so vornehm, wie ich noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte (jedenfalls nicht bei Tageslicht, doch das ist eine andere Geschichte). Gleichzeitig wirkte die Beleuchtung auf seltsame Weise Unheil verkündend. Das lag an den Lampen. Sie waren auf allen Podesten aus dunklem Rauchglas, sodass der Eindruck entstand, Regenwolken hingen darüber. Der dunkelblaue Teppich, der die Treppe hochlief, verschluckte gegen meinen Willen meine Schritte. Dem kleinen Mädchen, das ich einmal gewesen war, hätte das gar nicht gefallen. Es hasste es ohnehin, wenn man ihm gebot zu schweigen. Meine Augen wanderten über die Namensschilder Søndergaard, Rosencrantz, Jensen … bis ich die dritte Etage erreichte und sofort die richtige Tür sah. Über dem Briefschlitz stand auf einer schwarzen Platte in weißer Schrägschrift Hansen, und ich versuchte, mit der Klingel eine heitere, kleine Melodie anzustimmen. Als ich das disharmonische Ergebnis hörte, hielt ich erschrocken inne. Wie mit Zauberhand ging die Tür auf, und ich sah der weißhaarigen Dame, die
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