Das Turmzimmer
genauso wenig, dass es für mich einen Unterschied gemacht hätte, wenn ich es gewusst hätte.« Sie nickte zu dem Stapel hin.
»Ich habe dir noch ein paar Seiten dazugelegt, die ich heute Nacht geschrieben habe, nachdem ich deine Geschichte gelesen hatte. Es ist nur ein Entwurf und bei Weitem nicht so gut wie das, was du über deine Jahre in Nyhavn geschrieben hast. Aber es ist meine Geschichte. Du kannst damit machen, was du willst.«
»Deine Geschichte?«
»Ja, meine Geschichte über meine Kindheit auf Liljenholm.«
Sie lächelte matt.
»Lies einfach, was ich geschrieben habe, wenn du Zeit dazu hast«, sagte sie.
Ihre Buchstaben hatten einen unordentlichen Schwung, der die Seiten wie ihren Schreibtisch aussehen ließ. Meine Zwillingsschwester Bella saß in dieser Zeit oft an meiner Bettkante … Nellas Stimme unterbrach mich störend:
»Hast du deinen Lesern erzählt, worauf Laurits Verdacht bezüglich Hortensia beruhte?«
Wir spielten alle möglichen Spiele: Verstecken, Fangen, meine Lieblingspuppenspiele …
Sie zeigte auf etwas, das mich nicht weniger hätte interessieren können.
»Du kannst Laurits einfach wortgetreu zitieren. Hörst du, was ich sage? Du kannst die Leser doch nicht ewig hinhalten!«
Bella war der schönste Name, den ich mir vorstellen konnte …
Nellas Finger zeigte beharrlich auf die Stelle in Fräulein Lauritsens Tagebuch, in der es um die Gedanken geht, die sie sich zu Hortensias Selbstmord gemacht hatte.
»Zitiere das«, forderte sie mich auf. Normalerweise bin ich kein Mensch, den man so einfach herumkommandieren kann, das dürfte wohl inzwischen klar geworden sein. Doch da dieses Zitat Nella so viel zu bedeuten scheint, will ich eine Ausnahme machen.
Fräulein Lauritsen schrieb Folgendes:
Ich habe mir nach meiner letzten Entdeckung so meine Gedanken zu Hortensia gemacht. Obwohl ich sie nicht kennenlernen durfte, ist sie mir oft nahe gewesen. Sie hat vor mir in dieser Kammer gewohnt. Aber ich glaube nicht, dass sie mir allein aus diesem Grund nicht aus dem Kopf geht. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, dass es einen guten Grund dafür geben muss, dass sie sich so jung das Leben genommen hat, und jetzt glaube ich mit Sicherheit zu wissen, dass dieser Grund Herr Horace war. Er hat sie geschwängert. Ihr eigener Bruder! Der Gedanke hätte mir schon früher kommen müssen, aber ich habe ihn nicht zu denken gewagt. Nicht meine Herrschaft! Nicht Herr Horace! Ich glaube auch, dass Frau Clara in ihrem tiefsten Inneren Bescheid weiß, doch sie ist zu entrückt, als dass ich das Thema ansprechen könnte. Antonia und Lily wissen nichts, und ich will sie um alles in der Welt schonen. Die beiden sind mein Ein und Alles. So wahr ich ihre Laurits bin, darf ihnen nichts Böses geschehen.
Ich musste ziemlich lange dagesessen und auf Fräulein Lauritsens Zitat gestarrt haben. Die Dunkelheit hatte sich jedenfalls um mich verdichtet, als Nella mit meinem Abendessen zurückkam. Hähnchen mit Kartoffelpüree. Drüben auf Frydenlund verkaufen sie Hähnchen und Kartoffeln zu einem ziemlich angemessenen Preis, deshalb bestehen unsere Abendessen oft aus diesen beiden Zutaten.
»Du hast meine Geschichte noch nicht gelesen, nicht?«, fragte sie. Meine Augen wanderten sofort zu den handgeschriebenen Seiten, die ich schon lange hätte lesen sollen. Aber so geht es einem wohl angesichts einer Enthüllung wie der von Fräulein Lauritsen. Ein Bruder, der die eigene Schwester vergewaltigt! Und dann auch noch in diesem Haus! Vieles habe ich in meinem Leben gehört und gesehen, aber so etwas noch nicht. Nella schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Es ist furchtbar, daran zu denken. Und nur damit du es weißt, das, woran ich im Moment denke, ist nicht weniger furchtbar.«
Sie ließ sich in meinen Lehnstuhl fallen. Selbst Lillemors Kleid sah unglücklich aus.
»Wie du weißt, habe ich wie eine Wahnsinnige nach der Korrespondenz zwischen meiner Mutter und Daphne du Maurier gesucht«, sagte sie. »Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass das Bündel englischer Briefe, das ich vor Antonias Tod in den Kamin geworfen habe, Daphne du Mauriers Teil der Korrespondenz war. Ich habe es geschafft, ein Vermögen zu verbrennen.«
»So etwas passiert.«
Meine Augen wanderten wie von selbst zu Nellas Geschichte, doch es war zu dunkel, um sie von dort, wo ich saß, lesen zu können.
Ohne Schminke sah Nella aus, als wäre sie die ganze Nacht wach gewesen, und das war sie
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