Das Turmzimmer
Das Kinderheim im Vodroffsvej. Mit vier wurde ich dann von einer Witwe aus Nyhavn adoptiert.«
Herr Hansen nickte eine Weile vor sich hin.
»Interessant«, sagte er. »Sehr interessant. Und haben Sie einen Verlobten?«
Er klang aufrichtig interessiert, als wollte er das wirklich gerne wissen. In diesem Augenblick wunderte mich alles an ihm. Als fiele etwas in seinen Augen an seinen Platz, dachte ich.
»Ich hatte eine Lebensgefährtin. Paula, hieß sie.«
Wir saßen eine Weile einfach so da, und als ich mich zwang, Herrn Hansen wieder anzusehen, nickte er noch immer. Er sah zufrieden aus.
»Paula, das ist ein guter Name«, sagte er. Plötzlich verstand ich Frau Hansens Wut. Wenn ich sie wäre, würde es mich auch rasend machen, Herrn Hansen an einem klaren Tag wie heute mir überlassen zu müssen.
»Leider habe ich nie jemanden namens Paula kennengelernt«, fuhr er fort, »aber früher kannte ich eine Frau, die Antonia hieß. Sie war meine erste Frau. Antonia von Liljenholm. Eine großartige Frau mit einem schwierigen Gemüt. Vielleicht kennen Sie sie?«
»Ja … doch, natürlich.«
Das war eine Wahrheit mit leichten Abwandlungen. Zu diesem Zeitpunkt beschränkte sich meine Bekanntschaft mit Antonia von Liljenholm auf die seltsam gestellt wirkenden Bilder in den Zeitschriften und ein einziges Interview, das ich vor vielen Jahren gelesen hatte.
»Was halten Sie von ihren Büchern?«, fragte er. Vor meinem inneren Auge öffnete sich eine Wüste. Doch es gelang mir zu murmeln, dass sie bestimmt ausgezeichnet seien. Er nickte zu der ansehnlichen Büchersammlung hin, die in den Einbauregalen aus Mahagoni ruhte. Ich hätte sie mir längst näher ansehen sollen.
»Mein Verlag gibt all ihre Bücher heraus. Hansen & Sohn, sehen Sie. Vielleicht kennen Sie den Verlag auch?«
Ich erhob mich, und tatsächlich trugen mehrere Reihen dicker, dunkler Buchrücken ihren Namen in goldenen Lettern. Antonia, Antonia, Antonia.
»Hat Lily keine Bücher geschrieben?«, fragte ich, nur um etwas anderes zu fragen. Hinter mir war es eine Weile still.
»Doch, sie hat geschrieben«, sagte Herr Hansen, »aber nicht unter ihrem eigenen Namen.«
Vorsichtig zog ich eins der Bücher heraus. Es war ziemlich schwer, was zweifellos zum Teil an dem roten Ledereinband lag. Auf der Vorderseite stand in geschwungenen, vergoldeten Buchstaben allein der Titel. Lady Nellas geschlossene Augen .
»Sie müssen gut an all den Büchern verdient haben, Herr Hansen?«
Die Worte entschlüpften meinem Mund, und Herr Hansen war wieder still geworden. Mit Sicherheit war er kein Mann, der über Geld sprach, und ein wenig verbittert dachte ich, dass das wohl so war, wenn man immer reichlich davon gehabt hatte.
»Ich habe Antonia geliebt«, sagte er hinter mir. »Alles, was sie ausgemacht hat, ihre Bücher, alles. Ich habe mir gelobt, alles für sie zu tun … alles, verstehen Sie? … und ich habe mein Versprechen gehalten. Da ist so viel, das ich Ihnen gerne von ihr erzählen würde, Fräulein. Ich habe so viel auf dem Gewissen, ohne es gewollt zu haben, und ich fürchte …«
Seine Stimme zitterte. Schnell ging ich zu meinem Stuhl. Setzte mich auf der Stuhlkante so weit nach vorn, dass ich nach seinen Händen greifen konnte, obwohl ich eigentlich nach Stift und Papier hätte greifen müssen.
»Was fürchten Sie, Herr Hansen?«
Doch ein weiteres Mal war seine Gedankenkette gerissen, die Scherben waren verschwunden, und er war sich nicht sicher, ob sie jemals da gewesen waren. Ich versuchte, seinen Blick einzufangen.
»Herr Hansen?«
Voller Scham blickte er auf seine Hände hinunter. Als wüsste er noch, wie viel er gerade hatte zu Bruch gehen lassen.
»Ich weiß nicht, was ich …«, murmelte er. Schweiß begann meinen Rücken hinunterzulaufen. Schnell sah ich mich im Arbeitszimmer um. Von dem schweren Schreibtisch mit dem Briefbeschwerer und dem Tintenfass aus Marmor zu den Bogenfenstern, bis zu dem stahlgrauen Aktenschrank und dem Regal mit den gesammelten Werken von Antonia von Liljenholm. Das alles glich am ehesten einem Museum um ein Leben, das langsam zur Neige ging. Und dieser Gedanke brachte mich auf eine Idee.
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen laut vorlese?«, fragte ich. »Aus Antonia von Liljenholms Büchern? Vielleicht erinnern Sie sich so besser an alles?«
Einen Augenblick machten mich seine gerunzelten Augenbrauen traurig.
»Antonia von Liljenholm?«
»Ja, ihre frühere Frau mit dem hitzigen Temperament. Ich nehme mir jetzt
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