Das Turmzimmer
hießen sie, alle waren Meinem Simon, der Liebe meines Lebens gewidmet, und alle zierte das gleiche Bild von Antonia, die er einmal geliebt hatte. Oder immer noch liebte, wenn seine Worte wörtlich zu nehmen waren. Aber warum war er dann nicht mehr mit ihr verheiratet? Sein Verlag gab schließlich noch immer ihre Bücher heraus, hatte er gesagt. Und was hatte er auf dem Gewissen? Wovor hatte er Angst?
Ich hätte ihn in diesem Augenblick einfach fragen können, und die Götter mögen bezeugen, wie oft ich mir gewünscht habe, ich hätte es getan. Ich zweifelte nicht daran, dass sein Geheimnis hier begraben liegen musste, doch ich fragte stattdessen nach etwas ganz anderem. Mein Verdacht. Ich wollte wissen, ob er begründet war oder nicht.
»Herr Hansen?«
»Nennen Sie mich Simon, Fräulein Agnes. Es ist wohl an der Zeit, dass wir uns duzen.«
Wärme breitete sich in mir aus. Ohne Zweifel würde er seine Worte gleich wieder vergessen haben, doch in diesem Moment mochte er mich.
»Simon? Da ist etwas, das ich dich gerne fragen würde.«
Er war aufgestanden, und als ich mich zu ihm umdrehte, streckte er die Hand aus und strich mir über die Haare. Oder tätschelte sie vielmehr. Zweifellos standen sie in alle Richtungen ab wie bei einem verwilderten Pudel.
»Du musst ungefähr im gleichen Alter wie Nella sein«, sagte er. Einen Augenblick glaubte ich, dass seine Gedanken ihm wieder entschwunden waren. Doch dann neigte er den Kopf zur Seite. »Meine Tochter Nella, verstehst du«, sagte er. »Du musst wissen, wie sehr ich sie all die Jahre vermisst habe. Ich weiß gar nicht, wie ich das ausgehalten habe.«
Dann haben Antonia und Simon eine Tochter, dachte ich, und Simon durfte sie nicht sehen. Dass er sie vermisste, war offensichtlich. Seine Augen waren ebenso grün wie die Blätter draußen.
»Erzähl mir, Simon, ob deine frühere Frau eine … ungewöhnlich enge, ans Erotische grenzende Beziehung zu einer Frau hatte«, sagte ich schnell, und die Tür ging auf. Es war wieder Frau Hansen.
»Es ist höchste Zeit, dass Sie für heute zusammenpacken, Fräulein Kruse«, sagte sie beherrschter, als sie aussah. Wieder spürte ich Simons Hand.
»Lily.«
Er hielt meinen Arm fest, und es kam mir wie die reinste Wiederholung vor. Ich, die ich sagte, dass ich Agnes Kruse hieß, Simon, der Lilys Namen wiederholte. Doch etwas war anders. Seine Augen waren anders. Er beantwortete meine Frage, wurde mir klar, und Frau Hansen trommelte demonstrativ gegen den Türrahmen.
»Kommen Sie, Fräulein Kruse?«
»Ich bin unterwegs.«
Simon stand ganz still und starrte den Aktenschrank an. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was sich darin verbarg. Er blinzelte mehrmals, erst zum Aktenschrank und dann zu mir hin, und ich verließ sein Büro mit den Büchern unter dem Arm und einer wachsenden Verwunderung. In der Diele schlug mir Frau Hansens Atem entgegen. Pfefferminz und noch etwas anderes. Etwas Stärkeres.
»Sie sind nicht angestellt, um Fragen zu stellen, Fräulein Kruse. Sie sind angestellt, um Notizen zu machen. NOTIZEN ZU MACHEN !«
Sie kniff die Augen zusammen, sodass sich ein feines Netz von Fältchen von ihren Augen aus über die Wangen ausbreitete. Sie kam ganz nahe an mein Gesicht heran. Ihr Atem trieb mir die Tränen in die Augen.
»Ich kann das nicht oft genug betonen«, sagte sie leise. »Wenn Sie Ihre Arbeit auch nur einen einzigen Tag weiter behalten wollen, sollten Sie sich ernsthaft zusammennehmen. Verstehen Sie mich, Fräulein Kruse? Sie haben mir eine fehlerfreie Abschrift, nicht mehr und nicht weniger versprochen, erinnern Sie sich? Ja? Ich bin nicht der Ansicht, dass ich in den letzten Tagen viel von dieser Abschrift zu sehen bekommen habe.«
Ich hielt Antonia von Liljenholms Bücher ebenso fest, wie ich an dem Verdacht festhielt, der mir gerade bestätigt worden war. Den ganzen Weg bis zur Kirche und den ganzen Weg bis zur Pension im Godthåbsvej musste ich daran denken. Und auch den ganzen Abend übrigens. Es genügte mir, die Bücher zu überfliegen, die ich mir von Simon ausgeliehen hatte. Sie erzählten sowieso alle die gleiche Geschichte wie in Lady Nellas geschlossene Augen , obwohl der junge Geliebte immer andere Gestalten annahm. In dem einen Buch war er der Sohn, im anderen der Knecht, im dritten der Enkel und in den nächsten fünfzig war er zweifellos alles Mögliche auf Gottes grüner Erde. Doch dass er ein Mann sein sollte, nur weil Antonia von Liljenholm »er« schrieb, kam mir mehr als
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