Das Turmzimmer
unwahrscheinlich vor. Je mehr ich las, desto mehr erkannte ich mein Leben. All die Male, die ich »er« gesagt hatte, weil ich unmöglich »sie« hatte sagen können. Aber auch all die Male, die ich geträumt hatte, meine Lüge ein bisschen damit versüßen zu können, dass ich die Wahrheit ein ganz klein wenig hindurchscheinen ließ.
Mir kam ein Gedanke. Wäre ich Autorin, hätte ich den Liebhaber genauso beschrieben wie Antonia von Liljenholm: die sanften Wellen seines Haars, seine vollen Lippen und die langen Wimpern, die Schatten auf die Wangen warfen, wenn er blinzelte. Dass es tatsächlich möglich war, die Wirklichkeit so umzuschreiben, dass alle sie aushielten, machte mir Lust, mich noch einmal als Autorin zu versuchen. Was man mit Worten alles sagen und nicht sagen konnte. Wäre ich Antonia, dachte ich weiter, würde ich hoffen, dass die richtigen Menschen entdeckten, was in Wirklichkeit dort stand, und vielleicht hatten sie das ja auch? Oder hatte nur ich etwas zu viel wiedererkannt, als ich es las?
Normalerweise hätte diese Art von Fragen die Einsamkeit in mir geweckt und hätte mich bei lebendigem Leib verschlungen. Das tat sie gewissermaßen jeden Abend, bis ich mich umzog und in die Stadt ging. Doch an diesem Abend war ich nicht allein. Antonia war bei mir. Sie erzählte mir ihre Geschichte genauso oft, wie ich es schaffte, sie zu lesen. Ich lernte etwas Wichtiges über Bücher: Die richtigen Bücher sind wie Menschen, nur besser. Sie zogen sich nicht in sich selbst zurück und wandten sich ab, bevor sie einen überhaupt kennengelernt hatten. Ich musste Antonia von Liljenholm auf die gleiche Weise behandeln, auch wenn sie sich für ihre eigene Schwester interessiert hatte, so unnatürlich das auch sein mochte.
»Du hattest also ein Verhältnis mit deiner Schwester, Antonia?«, flüsterte ich versuchsweise den Büchern auf meinem Nachttisch zu. »Warum hat es aufgehört, kannst du mir das verraten? Hat Simon sich zwischen euch gedrängt? Oder Nella? Und wirst du mir ehrlich antworten, Antonia?«
Meine Stimme war kaum hörbar. Paula, die neben mir wohnte, sollte nicht denken, dass ich mit mir selbst sprach (ja, die Paula, eine von uns hätte längst eine andere Pension finden müssen, doch wir fanden beide, dass die andere ausziehen sollte). Ich legte mich in mein knarrendes Bett zurück, zog Lillemors gehäkelte Decke um mich und starrte die einsame Birne an der Decke an, die mein Zimmer noch nackter erscheinen ließ, als es ohnehin schon war. Gelbliche Wände und ein blauer Kleiderschrank aus Gott weiß welchem Jahrhundert, ein Tisch mit zwei einsamen Leuchtern und zwei Stühlen, die nicht zusammenpassten. Nicht einmal mit gutem Willen.
»Hat Simons Angst etwas mit dir zu tun, Antonia?«, flüsterte ich und kannte bereits die Antwort. Deshalb verbrachte ich unter anderem die nächsten Stunden damit zu überlegen, wie ich mehr herausfinden konnte.
Der Aktenschrank
Wenn Sie in diesem Moment einen von Antonia von Liljenholms Romanen in den Händen halten würden, hätte die junge Heldin zweifellos eine Vorahnung der Katastrophe gehabt, die nahte. Und sie hätte ihre Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das taten die jungen Heldinnen in Antonias Universum immer. Doch ich habe nun einmal keinerlei Ähnlichkeit mit einer jungen Heldin, selbst wenn man mich von Weitem sieht. Deshalb lassen Sie mich bei der Wahrheit bleiben, und die ist die, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was mich erwartete, als ich mich am nächsten Morgen von der Pension Godthåb auf den Weg zum Vodroffsvej machte. Alles sah vielversprechend aus, nicht zuletzt mein kleiner Plan. Außerdem konnte ich noch immer mit dem Mantel über dem Arm und den Augen hoch in den Baumkronen spazieren gehen.
Letzte Nacht hatte ich nur eine Stunde geschlafen, doch der Schlafmangel fühlte sich mehr so an, als wäre eine schwere Gardine zwischen mir und der Welt zur Seite geglitten. Der dunkelblaue Läufer, der bis in die dritte Etage hinaufführte, kam mir noch blauer vor als sonst. Nahezu leuchtend blau. Ich konnte es kaum erwarten, Simon in der Tür stehen zu sehen und mich willkommen zu heißen, doch der Geruch eines Damenparfüms kam mir dazwischen. Ein Rosenduft. Mit jeder Stufe, die ich hinaufstieg, wurde er intensiver, und schließlich stand Frau Hansen mit überkreuzten Armen und wippenden Füßen vor mir.
»Wir müssen miteinander reden. Sofort«, sagte sie, noch bevor sie die Tür hinter mir geschlossen hatte. Ihre Hemdbluse hatte
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