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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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waren, sondern war genauso verschlossen gewesen wie die übrigen Schubladen.
    Frau Hansen glich ganz dem Wächter, der sie auch war, als sie sich zwischen Schrank und Tür niederließ. Dass sie mit ihren eigenen kleinen Nachforschungen begonnen hatte (recht ähnlich denen, an die ich selbst gedacht hatte) und mich von den Papieren fernhalten wollte, war offensichtlich.
    »Stimmt irgendetwas nicht, Fräulein Kruse?«
    Wenn man die Sachen seines Mannes auf diese Weise durchsuchte, sollte man besser lügen können, als Frau Hansen es gerade demonstriert hatte. Ich war ihr darin in aller Bescheidenheit weit überlegen.
    »Nein, was sollte denn nicht stimmen?«
    Die hohe Mahagonivertäfelung ließ das Zimmer wesentlich dunkler erscheinen als den Rest der Wohnung. Dunkler und stickiger. Nicht verwunderlich, dass Simon auf seinem Stuhl am Fenster eingeschlafen war, den Kopf zur Seite geneigt und das Haar in wilder Unordnung. Jetzt schlug er die Augen auf.
    »Lily?«
    Frau Hansen scharrte mit den Füßen.
    »Nein, mein Lieber, sie heißt Agnes Kruse. Das weißt du doch, oder?«
    »Ja, ja, das stimmt, das stimmt schon.«
    Er hätte sagen sollen, dass ich müde aussah und dass mein Haar Ähnlichkeit mit einem Heuhaufen hatte, doch er sah ohne zu blinzeln Frau Hansen an. Die Nadel in ihren Händen stickte bereits Blumen auf etwas, das mit der Zeit zu einem Kissenbezug werden sollte. Sie nickte ihm freundlich zu.
    »Kümmere dich nicht um mich. Ich sitze hier nur ganz still.«
    Doch Simon kümmerte sich um Frau Hansens Anwesenheit, und mir ging es nicht anders. Die nächste Woche verbrachte ich in einem Dämmerschlaf aus Simons halben Sätzen und langweiligen Geschichten aus der Zeit, als er noch ein Junge war. Zu diesem Zeitpunkt kam es mir nicht wie eine Katastrophe vor. Eher wie eine Zeitvergeudung, die Frau Hansen dazu veranlassen würde, uns bald wieder in Frieden zu lassen. Aber es war eine Katastrophe, und an einem ganz unschuldigen Donnerstag wurde mir langsam ihr voller Umfang bewusst.
    Es war zwölf geworden, und Simon machte seit mehreren Stunden einen rastlosen Eindruck. Vor allem seine Beine. Immer wieder wippten sie, streckten sich und machten Ansätze aufzustehen. Auch Frau Hansen war das nicht entgangen.
    Sie war in den letzten Tagen blasser geworden, sogar ihre Lippen waren ganz weiß. Vielleicht hatte das mit der nächsten Schublade des Aktenschranks zu tun, die jetzt einen Spalt breit offen stand. Ich wünschte, ich würde es wissen, doch Frau Hansen ließ mich nicht einen Moment aus den Augen. Jetzt stickte sie weiße Blumen auf eine ohnehin schon furchtbare bordeauxfarbene Bettdecke. Wie ein überdimensionales Umstandskleid bedeckte sie Frau Hansen und den halben Boden. Doch sie befand sich wohl auch in anderen Umständen, sie wartete. Das taten wir so gesehen beide. Ihre Nadel blieb in der Luft stehen.
    »Ist etwas nicht in Ordnung, mein Lieber? Du bist so unruhig?«
    Wenn ich etwas nicht verstand, waren das Frauen, die freiwillig stickten, und wenn ich Simon genauer ansah, ging es ihm ebenso. Oder aber ihn frustrierte etwas anderes. Seine Beine wippten jetzt in einem schnellen, hitzigen Rhythmus, seine buschigen Brauen stießen frontal zusammen.
    »Magst du mir nicht vorlesen, Lily?«, fragte er laut. Aus den Augenwinkeln sah ich Frau Hansens Nadel unheildrohend auf und ab tauchen.
    »Meinst du nicht, dass du lieber weitererzählen solltest, mein Lieber?«, fragte sie die halbe Blume, an der sie gerade stickte. Simons Fingerknöchel waren ganz weiß von seinem festen Griff um die Armlehne.
    »Nein«, sagte er mehrmals, und in diesem Augenblick begriff ich, dass er mich wiedererkannte. Zum ersten Mal seit einer Woche waren seine Augen klar. Zunächst war ich mehr als unentschlossen. Ich wusste, dass er wusste, wie ich hieß, und doch nannte er mich Lily. Ich wusste auch, dass er sehr wohl im Stande war, in ganzen Sätzen zu reden, und doch stammelte er sich durch eine endlose Reihe von kannst du nicht … ich meine …, bis ich Notizblock und Stift zur Seite legte und aufstand.
    »Natürlich kann ich dir vorlesen«, sagte ich und holte das erstbeste Buch von Antonia von Liljenholm aus dem Regal. Puppentheater hieß es. Es musste ihr Aktuellstes sein. 1935 stand auf der ersten Seite, und als ich darin blätterte, starrten mich unter ein paar imponierenden, halb niedergeschlagenen Wimpern Antonias Augen an. Sie hatte sich in all den Jahren so sehr verändert, dass nur noch der Blick derselbe war. Hinter

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