Das Turmzimmer
gegangen war, blieb mir ein Rätsel. Sie konnten die kleine Nella wohl kaum davon überzeugt haben, dass die neue Antonia immer ihre Mutter gewesen war? Das konnte ich mir damals zumindest nicht vorstellen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, wirklich Glück gehabt zu haben, und das kam bei Weitem nicht gerade häufig vor. Doch ich zog es eindeutig vor, bei einer Mutter aufgewachsen zu sein, die mich mit ihrer verstorbenen Tochter verwechselte, als in diesem Irrenhaus, das Liljenholm gewesen sein musste und vielleicht noch immer war. Es fiel mir natürlich schwer, mich auf Simons Seite zu stellen, der seine Tochter auf diese Weise verlassen hatte. Doch wenn ich schon der Meinung war, mich nie in einem Menschen, den ich mochte, getäuscht zu haben, musste ich davon ausgehen, dass es für Simon noch gewichtigere Gründe gegeben hatte als den schnöden Mammon, sich auf diese Abmachung einzulassen. Aber welche?
Oh nein!
Ich musste laut gesprochen haben, denn Paula klopfte gegen die Wand und fragte, ob ich nicht still sein könne. Sie müsse morgen früh aufstehen. Still sein! Sie konnte Gift darauf nehmen, dass ich still sein konnte. Aber nicht jetzt, wo ich mir Fragen stellte und Antworten bekam, die meine Zähne in der Sommernacht klappern ließen. Lilys Motiv war klar: die glückliche Schwester und Simon aus dem Weg zu räumen, sodass sie Antonias Leben übernehmen konnte. Lauritsen tat vermutlich nur, was man ihr sagte. Doch Simon hatte sowohl Antonia als auch Nella geliebt und sich trotzdem auf einen Plan eingelassen, der ihm beide nahm und Antonias Leben zu einer Hölle machte. GEWICHTIGE GRÜNDE ! Er musste sie gehabt haben, und wieder sah ich ihn vor mir. »Ich habe Antonia geliebt. Alles, was sie ausgemacht hat, ihre Bücher, alles«, hatte er gesagt. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Höchstwahrscheinlich würde man sich aus einem einzigen Grund darauf einlassen, einen geliebten Menschen in ein Turmzimmer einzusperren: Wenn dieser geliebte Mensch eine Gefahr für sich und andere darstellte und wenn man wollte, dass niemand davon erfuhr. Ich hatte keine Ahnung, warum Antonia von Liljenholm wahnsinnig geworden sein sollte. Soweit ich das sah, hatte sie alles und noch etwas mehr. Aber wenn es trotzdem passiert, wenn irgendetwas schiefgelaufen war und sie den Verstand verloren hatte, war es dem weiteren Verkauf ihrer Bücher eindeutig zum Vorteil, wenn niemand von ihrem Zustand erfuhr und alles wie bisher weiterlief. Dass Lily die Bücher schrieb und sich für Antonia ausgab. Vielleicht war es die ganzen Jahre so gelaufen. Zweiundzwanzig Jahre, in denen Lily im Wohnzimmer und Antonia im Turmzimmer gesessen hatte. Etwas in mir erstarrte. Angesichts der Gegebenheiten, nehme ich an. Denn all das klang wie eine Geschichte aus einem Schundroman. Doch es war keine Geschichte, die man einfach zuklappen und zurück ins Regal stellen konnte. Es war die reine, unverfälschte Wirklichkeit, und im Augenblick spielte sie sich wahrscheinlich nur eine Zugreise von hier entfernt ab.
Wovor hast du Angst, Simon?, flüsterte ich den Mappen zu, die auf meinem Nachttisch lagen und erheblich unschuldiger aussahen, als sie waren. Doch in dieser Nacht fand ich nicht mehr heraus. Nicht weil ich sofort wieder einschlief, sondern weil ich noch diverse andere Dinge zu schreiben hatte. Ich musste nur immer wieder daran denken, dass es irgendwo noch weitere Details geben musste, da Simon so viel daran lag, die Geschichte jetzt ans Licht zu bringen. Sie war ihm schließlich seit Jahren bekannt. Als der Wecker wenige Stunden später schellte, stellte ich fest, dass ich zum Gott weiß wievielten Mal über meiner Arbeit eingeschlafen war, mit dem Unterarm als Kopfkissen und mit einem unkleidsamen Tintenfleck auf der Wange.
Ein paar Worte zu Wallis
Bevor ich erzähle, was mich erwartete, als ich am nächsten Morgen über den blauen Läufer hinauf in die dritte Etage stieg, muss ich erwähnen, dass es mir in den letzten Tagen unmöglich gewesen ist, auch nur eine Zeile zu schreiben. So viel zu Liljenholms laut besungener Schreibruhe! Vor meinem Fenster hantiert Nella mit diversen Gartengeräten, deren Namen ich nicht einmal kenne. Es ist offensichtlich, dass sie sich in die Neugestaltung des Parks gestürzt hat, um sich abzureagieren. Im Moment hackt sie Brennholz und kommandiert ein paar Lohnarbeiter von Frydenlund herum, die den Rasen bändigen und das Rosenbeet neu bepflanzen sollen. Davor hat sie eigenhändig den großen
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