Das Turmzimmer
jemand mich dazu bringen konnte, mich richtig zu fühlen, das die Frau sein musste, die mich geboren hatte. Eines Tages würde ich irgendeine Straße entlanglaufen, habe ich gedacht, und sie würde mir entgegenkommen, wir würden uns augenblicklich wiedererkennen. Es geschähe ganz instinktiv. Ich würde mich niemals mehr alleine fühlen. Jetzt, wo ich das schreibe, klingt es mehr als unwahrscheinlich. Sowohl dass ich eine Frau, der ich nie begegnet bin, wiedererkennen als auch dass das Falsche an mir dadurch verschwinden würde. Doch während meiner Kindheit habe ich es trotzdem gehofft.
Aber Nella! Sie hatte sich nicht einmal eine Geschichte ausdenken können, was sie ihrem Vater sagen würde, wenn sie ihm ganz zufällig auf der Straße begegnen sollte. Diese Freude hatten Simon und Antonia ihr genommen. Ich wusste nicht, was schlimmer war: zu wissen, dass der eigene Vater oder die eigene Mutter einen fallen gelassen hat, oder es nicht zu wissen. Als ich mich schließlich entschloss schlafen zu gehen, fragte ich Simon, wie er sich so hatte verhalten können. Nicht weil ich eine Antwort erwartete natürlich. Ich hatte es mir nur so angewöhnt, meine richtige Mutter das Gleiche zu fragen. Doch diesmal fühlte es sich völlig anders an. Denn Simon war ich begegnet. Seinen leuchtenden, grünen Augen. Er war nicht irgendein Unbekannter, der den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und seine Tochter in einem Kinderheim abgegeben hatte, um nie mehr zurückzukommen. Er war der Mann, der mir seine persönlichen Papiere anvertraut hatte, und ich wusste noch immer nicht, was ich darin finden sollte. Etwas, das er fürchtete, aber was?
Mitten in der Nacht wusste ich es. Nicht, was er fürchtete, sondern was ich übersehen hatte. Ein Versehen, das ich zwar registriert, über das ich aber nicht weiter nachgedacht hatte, obwohl alle Erfahrung mir hätte sagen müssen, dass gerade diese Art Versehen die gefährlichsten sind. Es ging um die Male, die Lauritsen Lilys Namen durchgestrichen und mit Antonias Namen überschrieben hatte.
Das Licht meiner Lampe blendete mich in den Augen, als ich sie einschaltete, um schnell in Lauritsens Briefen nachzuzählen. Zehnmal hatte sie Lily durchgestrichen, und wenn man die As mitzählte, die eindeutig ihr Leben als Ls begonnen hatten, kam ich auf siebzehn Namensfehler in dreiundzwanzig Briefen. Im vierundzwanzigsten Brief, der auf den 1. August 1926 datiert war, waren darüber hinaus alleine zehn Fehler, doch ich beschloss, sie nicht mitzuzählen, da Lauritsen offensichtlich auf dem Sterbebett gelegen hatte. Ich habe den Winter meines Lebens erreicht, schrieb sie, aber ich habe so lange ausgeharrt, um Nella einen guten Start zu ermöglichen. Ihr Verhältnis zu Lily Antonia hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, und ich glaube, dass sie Liljenholm verlassen wird, sobald es mich nicht mehr gibt. Das wird bald sein, und das ist bestimmt auch das Beste.
Bekanntlich ist es nicht Sache des Menschen, in solchen Dingen zu urteilen, doch immerhin wusste ich so viel, dass nicht alle Namensfehler Zufälle sein konnten. Ich dachte noch weiter darüber nach, als ich das Licht wieder löschte. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, doch plötzlich stolperten meine Gedanken übereinander. Oder warten Sie, eigentlich weiß ich sehr wohl, wie es dazu kam, und vielleicht kennen Sie das ja. Man glaubt nicht, dass es den geringsten Unterschied macht, ob man die Seite wechselt oder nicht. Doch in dem Moment, in dem man sich neben jemanden stellt und alle anderen von dort aus betrachtet, sieht die Welt völlig anders aus.
Genau das passierte, als ich mich in dieser Nacht an Simons Seite stellte. Denn es konnte zwar sehr gut sein, dass Antonia ihm das Zusammensein mit Nella verweigert, dass er das Geld seiner Tochter vorgezogen und dass selbst besagte Lauritsen nur Abneigung für ihn übrig gehabt hatte. Doch ich hatte mich noch nie in einem Menschen geirrt, den ich mochte. Nicht, wie ich Simon mochte. Es war doch ganz offensichtlich, dass die Geschichte von Lilys Selbstmord eine andere Geschichte verheimlichen sollte, aber wenn Simon involviert war, konnte es unmöglich ein Mord sein. Die Gedanken liefen mir davon. In Antonias Brief war schließlich auch nicht von einem »Mord« die Rede, dort stand »die Abwesenheit der Letzteren«. Ich musste an Lauritsens Worte denken. »Sie hat noch immer Angst vor den ›Gespenstern‹ im Turmzimmer und all ihren Geräuschen.« Es bestand absolut kein Grund, Gespenster
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