Das Turmzimmer
in Anführungszeichen zu setzen, es sei denn, man wollte andeuten, dass es wohl kaum Gespenster waren, die sich dort aufhielten. Abwesenheit konnte so viel bedeuten … Verschwinden, Flucht, Eingesperrtsein im Turmzimmer. Wir tun, was wir können, um Nella von dem Turm fernzuhalten. Nella hat keine Probleme damit zu glauben, dass Lily aus dem Fenster gesprungen ist.
An dieser Stelle fuhr ich mit einem Schrei im Bett hoch. Ich starrte ins Dunkel, und was ich sah, war kein schöner Anblick. Ein Gut mit Namen Liljenholm, zwei Schwestern, Antonia und Lily, die von Anfang an ungleich gewesen waren, da Antonia den Titel und die Schlüssel und, den Jugendbildern nach zu schließen, auch das gute Aussehen geerbt hatte. Und trotzdem wandten sich die Schwestern einander zu und wurden Liebende. Wahrscheinlich bis Antonia ihren Herausgeber, Simon, heiratete, vielleicht auch noch länger, weil er von dem Verhältnis wusste und weil es weiterhin eine zentrale Rolle in Antonia von Liljenholms Büchern spielte. Doch mit der Zeit wurde das Verhältnis der Schwestern zueinander immer ungleicher, da Antonia sehr viel mehr Glück hatte und vielleicht auch sehr viel tüchtiger war als Lily. Außer dem Titel und den Schlüsseln bekam sie eine glückliche Ehe und eine gut erzogene Tochter und dazu noch eine einträgliche Karriere als Autorin. Lily dagegen bekam nichts, und so ging es weiter. »Doch, sie hat geschrieben, aber nicht unter ihrem eigenen Namen«, wie Simon gesagt hatte.
Dann war Lily diejenige im Hintergrund, die unter Antonia von Liljenholms Namen Romane schrieb und still und leise immer wütender wurde, stellte ich mir vor. Ich wäre das zumindest geworden, wäre ich sie gewesen, und dann passierte etwas. Was, wusste ich nicht, doch das Resultat sah ich plötzlich leuchtend klar vor mir: Die Beseitigung bedeutete ein Einsperren im Turmzimmer, und eingesperrt wurde nicht die Schattenschwester Lily, sondern die glückliche Antonia, die jetzt keine Spur mehr glücklich war. Dort oben konnte sie toben, so viel sie wollte, doch auf Liljenholm herrschte jetzt Lily, die sich von nun an für ihre Schwester ausgab. Auf Liljenholm war Lily endlich die erfolgreiche Autorin und Mutter, wie sie sich das immer erträumt hatte. Nicht so verwunderlich, dass man die Antonia von Liljenholm auf den Jugendbildern in dem Porträt, das ihren letzten Roman zierte, nicht wiedererkannte.
Den Ausschlag für mich gab Antonias Kälte in ihrem Brief an Simon. Weniger als ein Jahr nach ihrer Scheidung klang sie kein bisschen wie eine Frau, die ihn einmal geliebt hatte, und das hatte sie ja auch nicht. Denn sie war nicht seine frühere Frau, sondern sie war Lily, die Rivalin seiner Frau. Genau wie Lauritsen das weiter schrieb, ohne es zu beabsichtigen, mit ihren durchgestrichenen Lilys. Wahrscheinlich hatte Lily nichts als Verachtung für einen Mann übrig, der ihr die Schwester genommen und das Leben besagter Schwester noch glücklicher gemacht hatte, als es ohnehin schon war. Wahrscheinlich hasste sie ihn sogar und musste ihn deshalb lebenslang bestrafen. Mit Nella. Lily konnte ihm befehlen, sich von seiner Tochter fernzuhalten, da sie wusste, wie viel ihm Geld bedeutete, und so kam es zu der Absprache. Lily und Lauritsen hielten den Betrieb am Laufen, erklärten Lily für tot durch Selbstmord und Simon für im See ertrunken, kümmerten sich um die nun alles andere als glückliche Antonia im Turmzimmer und taten, was in ihrer Macht stand, damit Nella nichts entdeckte. Doch nur unter der Bedingung, dass Simon für immer aus ihrem und Nellas Leben verschwand. Und es machte Sinn, dass er das Nutzungsrecht für die Grabstätte mitgenommen hatte. Schließlich war er mit der Frau verheiratet, die von nun an für tot erklärt wurde. Lily, die nicht mehr wert war, als eines stillen Todes zu sterben. Du hast zugestimmt, Liljenholm zu verlassen, dichtzuhalten, und niemals zu versuchen, Kontakt zu Nella aufzunehmen , wie Lily ihm als Antonia geschrieben hatte, und dieser Teil der Abmachung hatte Simon jeden Tag gequält. Ich sah ihn vor mir: »Du musst wissen, wie sehr ich sie all die Jahre vermisst habe«, hatte er zu mir gesagt. »Ich weiß gar nicht, wie ich das ausgehalten habe.«
Ich war mir relativ sicher, dass Nella es auch nicht wusste. Es musste ein Albtraum gewesen sein, auf einem Gut aufzuwachsen, auf dem die eigene Mutter im Turmzimmer jammerte. Auch wenn einem gesagt wurde, dass das nur die Gespenster waren. Wie das Ganze rein praktisch vor sich
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