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Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York

Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York

Titel: Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Honigmann
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gemeinsame Sprache gewählt habe, stellt der Automat mir verschiedene einfache Fragen, wohin, wie viele Personen, einfach oder hin und zurück und ob ich minderjährig, Student, Rentner oder behindert bin. Dann fragt er mich plötzlich Peak or Off-Peak , und ich verstehe ihn nicht, obwohl ich doch weiß, daß sogar die Russen tschassei pik sagen und die Franzosen heures de pointe , was doch ebenfalls in die gleiche Richtung weist, und daß die höchsten Berge in den Alpen meistens Pic de irgendwas heißen. Alles deutet auf etwas wie Spitze hin, aber ich komme nicht darauf, alle diese Kenntnisse setzen in meinem Kopf aus. Der Automat aber will eine Antwort und zwar sofort: Peak oder Nicht- Peak ist die Frage. Hinter mir bildet sich schon eine Schlange, und ich werde ganz nervös. Bislang hatte ich immer geglaubt, Schlangestehen habe es nur im Osten gegeben, aber hier in New York muß man dauernd Schlange stehen, sogar im Restaurant, wo man dann genau wie weiland in der DDR plaziert wird. Ich muß einen der Knöpfe drücken, nachdem ich mich bis hierher durchgearbeitet habe, es scheint die letzte Frage vor dem Ausdruck des Tickets zu sein. Ich drücke auf Peak . Und das ist falsch. Denn es ist Sonntag, ganz großes Off-Peak !
    Und dann weiß ich plötzlich auch, warum mein Gefühl meinen Verstand außer Kraft gesetzt hat. Es war die Erinnerungan die kindlichen Spiele meiner Söhne, jene fernen Zeiten, als sie sich noch jeden Tag rauften und gegenseitig »Pieker« und »Quieker« nannten. Der Große piekte und der Kleine quiekte. Die Tür zum Kinderzimmer war fest verschlossen, in unregelmäßigen Abständen stürzte einer der beiden mit hochrotem Kopf schreiend heraus und nach wenigen Minuten wieder hinein, hinter der wieder fest verschlossenen Tür quiekte, schrie, lachte, schnaufte, schniefte und prustete es, und am Ende erschienen beide mit roten Gesichtern, erschöpft, aber glücklich in der Küche und suchten im Kühlschrank nach Nahrung, falls die Seance nicht mit Krach und Tränen endete; das eine schloß übrigens das andere nicht aus.
    Wer soll denn wissen, daß die rush hour hier peak hour heißt?
    Daniel erwartet mich an der Station, die er mir vorher am Telefon genannt hat. Wir stehen uns gerührt auf dem schmalen Bahnsteig unter freiem Himmel gegenüber, ich weiß nicht, ob ich ihm die Hand entgegenstrecken soll, da die Geste im religiösen Milieu unpassend ist, aber da umarmt er mich schon, obwohl er, wie gesagt, ein richtiger orthodoxer Jude ist, und orthodoxe Juden eigentlich keine Frau umarmen, wenn es nicht ihre eigene ist. Ich bin noch mehr gerührt. Auf dem Weg zu seiner Beach Street zeigt er mir noch die neighbourhood . Buchstäblich an jeder Ecke gibt es eine Synagoge. Hinter der Grenze zu Nassau, inLawrence, erklärt er mir, ist es noch »schlimmer«, da stehen noch mehr Synagogen, Jeschiwes, Schulen, koschere Shopping Centers, es gibt sogar einen jüdischen Rettungsdienst, der am Schabbes im Notfall mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen rast, wo ihn wegen der Schabbesruhe kein Verkehr hindert, falls sich nicht ein paar Hispanics dahin verirrt haben. Und doch ist der neue Synagogenbau in der Nacht vor seiner Einweihung abgebrannt.
    Wer weiß, wie lange diese komfortable Diaspora noch dauert, sagt Daniel, und ich widerspreche ihm nicht, denn das habe ich auch schon oft gedacht. Wer weiß, wann die Stimmung umkippt. Auch in Spanien war damals eine goldene Zeit, meint er, da waren wir in die Gesellschaft integriert und anerkannt und hatten gute Stellungen und Geld und konnten sogar unsere Stimme hören lassen, ohne sie verstellen zu müssen. Solange, bis die Gojim ihren Haß wiedergefunden hatten. Sie finden ihren Haß immer wieder, weil sie selbst unglücklich sind, kommentiert er den Synagogenbrand. Denn alles deutete darauf hin, daß es Brandstiftung war, in der Nacht vor dem Simchat Tora-Fest.
    Zu Hause wartet Rachel auf uns, Daniels Frau, und alle ihre Kinder, die, wie gesagt, schon erwachsen oder fast erwachsen sind. Rachels Eltern stammen aus Polen und sind über einen langen Umweg nach Amerika gekommen. Siewaren vor der deutschen Besetzung nach Osten geflüchtet, hatten ganz Rußland und den Iran durchquert und sich dann einige Jahre, ohne Erfolg, in Palästina zu etablieren versucht. Von dort wanderten sie nach Honduras weiter, da wurde Rachel geboren, bevor die ganze Familie schließlich in New York settelte , und hier hat sie Daniel getroffen. In der Long Island Rail Road .
    Wir

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