Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
spazieren dann alle zusammen, wie eine richtige große Familie, die Beach Street zum Beach hinunter, der Strand ist hier schließlich die Attraktion. Auf dem Weg treffen wir viele Bekannte von Rachel und Daniel, denen sie mich als Cousin from Europe vorstellen, und sie zeigen mir noch ihre Shul Young Israel , die wie ein kleines Theater wirkt, mit viel blauem und rotem Samt, und die White Shul , die in blendend weißem Kolonialstil glänzt und von allen in der Gegend die älteste ist. Die Kinder fragen mich nach Europa aus, dort waren sie noch nie, keiner von ihnen, und sie halten es auch für unwahrscheinlich, daß sie irgendwann mal hinüberkommen, danken mir aber für meine Einladung. Wir entdecken uns als Verwandte, dabei kennen wir uns kaum. Im Sand ziehen wir unsere Verwandtschaftslinien nach und versuchen den Grad zu bestimmen. Was sind wir zueinander? Wie nennt man das? Daniels Großmutter war die Cousine meines Vaters. Ihre Väter waren Brüder. Von denen haben wir alle schon gehört. Breslau.
Diese Cousine, Eva, habe ich noch kennengelernt, als ich zum allerersten Mal in New York war. Sie wurde allgemein »Mutti« genannt, nicht nur von ihrer Tochter, sondern auch von ihrem Enkel und allen ihren Urenkeln. Es ist das einzige deutsche Wort, das bei den Nachkommen der Breslauer Familie noch herumgeistert, auch in ihren Erinnerungen sprechen sie immer noch von »Mutti«. Jetzt ist »Mutti« schon tot. Ein paar Jahre haben wir noch Briefe gewechselt. Auf deutsch. Daniel erzählt mir von ihrem Ende, und ein bißchen Deutsch verstehen kann er doch, gibt er zu, und daß er auch von Heinrich Heine gehört hat und von der Loreley. Von »Mutti« natürlich.
Weil ich nicht um Mitternacht im Dschungel der Penn Station herumirren möchte, aber auch, weil ich ein bißchen vor der Nähe und der Rührung fliehe, die mich in der wiedergefundenen Familienbindung überkommen hat, breche ich schon früh wieder mit der Long Island Rail Road auf. Auf der Fahrt lese ich in dem Bändchen, das mir Kathrina geschenkt hat, einer kleinen Sammlung von Gedichten Gerschom Scholems.
In alten Zeiten führten alle Bahnen
zu Gott und seinem Namen irgendwie.
Wir sind nicht fromm, wir leben im Profanen
und wo einst Gott stand, steht Melancholie.
Im Penn-Dschungel finde ich leicht meinen Weg zum A-Train, mit dem ich nur noch bis zur West 4th Street fahren muß, dann schlage ich einen Haken um den Washington Square herum, weil Sanda sagt, es sei besser, ihn nachts nicht zu durchqueren. Ich könnte noch bei ihr vorbeischauen, sie geht ohnehin erst gegen zwei zu Bett, und ihr von meiner Familie erzählen, von der sie noch nicht viel gehört hat, statt dessen aber drehe ich, weil mir mehr nach Alleinsein zumute ist, noch eine Runde durch die kleinen Streets, die Grove, die Thompson, die MacDougal, da sind die berühmten Music Clubs, und wie immer drängen sich viele Menschen auf den Trottoirs. In der Bleecker Street, ganz nahe bei meiner Residenz, befindet sich die berühmteste Bar und der älteste Rock Club des Village, in dem alle Rock-, Jazz- und Folklegenden aufgetreten sind, von denen man je gehört hat. In einem Schaukasten an der irgendwie ebenfalls schon legendären Backsteinfassade betrachte ich ausgiebig ihre Fotos, die auch schon etwas ramponiert aussehen, wie alles hier: Peter, Paul and Mary und Bob Dylan und Frank Zappa und Nina Simone und natürlich viele andere, die ich gar nicht kenne. Und weil ich sowieso schon melancholisch und ein bißchen traurig gestimmt bin, trägt die Bar den Namen The Bitter End .
In der Nacht habe ich dann von meinem Vater geträumt und bin aufgewacht und habe geweint. Im Traum haben wir uns hier in New York in einem Hotel getroffen und inder Lobby in zwei tiefen Sesseln gesessen und viele Kaffees getrunken und uns wie zu Hause gefühlt und über die Leute amüsiert, die da saßen oder kamen und gingen, ihnen unsere Kommentare, scharfen Beobachtungen und dummen Bemerkungen verpaßt, so wie wir es früher oft getan haben, guck mal der, sieh dir die an, hast du das gesehen. »Nur ganz oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren«, pflegte mein Vater seine Leidenschaft, über andere Menschen herzuziehen, zu begründen. Erst einige Minuten, nachdem ich aufgewacht war, fiel mir wieder ein, daß mein Vater ja schon seit vielen Jahren tot ist, obwohl er im Traum so gegenwärtig war, er sprach und lachte wie immer, wie früher. Vielleicht ist das ja das Weiterleben nach dem Tod. Die
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