Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
noch auf Namen hören. Die nach Norden fortlaufende Numerierung der Streets beginnt hier erst zögerlich, Namen und Nummern wechseln sich noch ab, manche Nummern fehlen ganz, die erste, zweite, fünfte, sechste und siebente Street existieren auf der Westseite gar nicht, statt dessen heißen sie Place, obwohl sie eindeutig Streets sind. Noch schlängeln sie sich um Plätze und kleine Squares, viele Häuser haben sogar Vorgärten, wie in einer Kleinstadt, ja, einem Dorf, deswegen heißt das Village ja auch Village.
Auf all das und noch viel weiter, bis zum East River, hat man vom Fenster meiner Residenz im Turm eine Aussicht. Ich könnte die zehn Wochen, die mir hier bemessen sind, auch nur am Fenster stehenbleiben und schauen. Faineanter dans un monde neuf est la plus absorbante des occupations – der Satz, den ein in Frankreich bekannter Reiseschriftsteller auf einer seiner Reisen zwischen dem Balkan und Afghanistan notierte, geht mir nicht aus dem Sinn.
Im Block gegenüber sind am Abend alle Fenster erleuchtet, und hinter allen Fenstern gibt es etwas zu sehen. Niemandhat die Vorhänge zugezogen. Die Leute stellen sich in ihren Szenerien dar, treten durch eine Tür auf, kommen herein oder gehen hinaus, sitzen in einem Sessel unter einer Lampe, einer liest Zeitung, manche gucken fern, eine Frau bringt etwas, ein Mann holt etwas, einer räumt seinen Schreibtisch auf, daneben tanzen sie und ein bißchen weiter turnen sie und üben sich an Geräten. An der Ecke ist ein Kino, davor stehen Leute Schlange oder gucken sich die Schaukästen an, drinnen kaufen sie sich Billets und Popkorn. Auf einem Balkon steht ein Mann in einer roten Hose und raucht. In der Wohnung unter ihm scheint eine Party stattzufinden, Leute stehen herum und halten Gläser in den Händen, ein Paar lehnt am offenen Fenster, es sieht aus, als führten sie ein ernstes Gespräch. Vielleicht haben sie sich gerade kennengelernt, vielleicht trennen sie sich heute. Ich beobachte die fremden Menschen in ihren fremden Leben wie durch die unsichtbare vierte Wand des Theaters, deutlich und entrückt zugleich. Nun weiß ich, wo Edward Hopper sich zu seinen Bildern hat inspirieren lassen. Er hat ja hier gewohnt, drüben am Washington Square North Nr. 3, wo man sein Atelier noch heute besichtigen kann.
Zwischen meiner Residenz und dem gegenüberliegenden Block liegt das flache Sport-Center der New York University, deren visiting scholar ich als resident writer auch noch bin, und auf dem Dach des Flachbaus drehen Jogger undWalker ihre Runden, manchmal sprinten sie auch oder machen ein paar Gymnastikübungen, die turne ich ihnen nach. Das soll ja gut tun.
Und über, neben und hinter dem gegenüberliegenden Block kann ich das Chaos der unvorstellbar vielgestaltigen Formen der Stadtlandschaft bestaunen, all die steinernen Linien, die sich schneiden und durchziehen, krümmen, biegen, strecken, über- und untereinander legen, längs, quer, diagonal, ornamental, zugleich statisch und bewegt, in einem schmalen Raum komprimiert. Und doch muß irgendwo eine Stütze sein, denn die Stadt steht stocksteif aufrecht. Die meisten anderen Städte liegen an einem Fluß oder am Meer oder in einem Tal, manchmal auf einem Berg. Diese Stadt aber steht senkrecht. Ich weiß, ich bin nicht die erste, die das feststellt.
Wenn das überirdische Licht am Abend untergegangen ist, tönt der Lärm noch immer weiter, er hört niemals auf, auch er muß überirdischer Herkunft sein, denn auf der Erde schlafen die Menschen doch manchmal. Geheul, Gedröhn, Getöse, Gerumpel und Geratter, Sirenenschrillen von Feuerwehr, von Polizei und anderen Emergencies , aber auch der Menschenlärm verstummt nie. Provinzlerin, die ich bin, dachte ich zuerst, die Stadt feiere gerade irgendein Fest, so viel Musik und so viele Stimmen, die singen, lachen, rufen, reden, aber nach der dritten Nacht habe ich verstanden, so ein ewiges Fest gibt es doch nichtauf der Welt. Es rumst, bumst, kracht, klingelt, quietscht, singt, schreit, brummt, tönt und tutet, und bald bin ich viel zu müde nachzusehen, was da draußen eigentlich vor sich geht, ich habe schon begriffen, daß es der normale Metropolenlärm des Village ist, wo sich schließlich Lokale, Bars und Jazzkneipen drängen und die Leute von sehr weit herkommen, um sie zu besuchen, weil die aller- berühmtesten Bands dort spielen und die weltbekanntesten Sänger singen.
Der doorman unten im Haus, an seinem frontdesk , kommentiert meine verhaltene Klage über den
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