Das unendliche Blau
erinnern, wie lange sie so dastanden und weinten. Immer wieder suchte Michele Zuflucht in Fragen, suchte mit seinen Fragen nach Hoffnung, und immer wieder war ihre Antwort die gleiche, eine Antwort, die keine Hoffnung zuließ: Sie würde sterben.
Irgendwann sahen beide zu dem blauen Ballon, und sie wussten, dass ihre Träume keinen Ballon mehr brauchten, um sich in dieser Nacht davonzumachen.
»Ich muss mich hinlegen«, sagte sie, als es nichts mehr zu sagen gab. Sie fühlte eine unendliche Müdigkeit.
Sie weiß später auch nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen ist. Sie weiß nur, dass sie gegen fünf Uhr morgens aufwacht und der Platz neben ihr leer ist. Ihre Hand tastet über ein zerwühltes kühles Kopfkissen.
Wie in Trance steht sie auf und sieht sich im Halbdunkel um, greift nach Micheles blauer Strickjacke, die am Türgriff hängt, und zieht sie sich über. Sie fröstelt.
Draußen brennt Licht. Es ist nicht wirklich hell, es ist nur die alte Stehlampe, die eingeschaltet ist. Trotzdem blinzelt Martha.
Michele sitzt auf dem Boden, neben sich einen Putzeimer und eine kleine Schachtel.
Er sieht zu ihr hoch. »Ich musste etwas tun«, erklärt er und zuckt mit den Schultern. »Ich hab alle Schränke ausgewischt, die hatten’s schon lange nötig. Ich konnte sowieso nicht schlafen, und da dachte ich …«
Sie geht zu ihm, schiebt den Eimer etwas beiseite und kniet sich hin. »Schon okay«, flüstert sie.
»Das hier hab ich gefunden, in einem der Küchenschränke.« Er greift nach der Schachtel. Es ist eine Streichholzschachtel, und als er sie aufzieht, sieht Martha zwei Figuren darin, aus roter und blauer Knetmasse.
»Die beiden sind nicht unter die Erde gekommen«, sagt er. »Wahrscheinlich wollten Francesca und ich sie noch in unserem Vorgarten in Triest beisetzen, aber irgendwas muss passiert sein damals.«
»Vielleicht gab’s damals keinen Hefezopf mehr«, hilft ihm Martha.
Er lächelt kurz. »Kann schon sein.«
»Wer sind die zwei?«
»Signorina Alberti, unsere Lieblingslehrerin. Sie unterrichtete italienische Literatur. Und er war ein Mann, der sie immer von der Schule abholte, in einem alten Fiat 500 mit Faltdach. Francesca und ich stellten uns vor, dass sie zusammen ans Meer fuhren, um Liebe zu machen. Und dann ließen wir sie beim Schwimmen ertrinken und vergaßen, sie zu beerdigen. Dabei hatte ich eine ziemlich gute Grabrede vorbereitet.«
Sie streicht ihm über den Kopf. Er schwitzt. Seine Haare sind feucht.
»O Gott, Martha. Das war ein Spiel, und jetzt …« Er beißt sich auf die Lippen.
»Jetzt ist es im Grunde auch ein Spiel«, unterbricht sie ihn. »Das ganze Leben ist nichts anderes.«
»Aber es ist ein grausames Spiel. Eines, bei dem wir verlieren. Dabei hab ich gedacht, wir zwei hätten das Glück gewürfelt.«
»Haben wir ja auch.«
»Für zwei Monate. Ich wollte die nächsten Jahre mit dir sein, ein ganzes Leben mit dir aufwachen und mit dir einschlafen, mit dir lachen und weinen und die Sterne zählen. Ich wollte endlich glücklich sein, endlich mal etwas zu einem guten Ende bringen. Weißt du, welchen Wunsch ich gestern in deinen kleinen Ballon gelegt habe?«
Sie nickt. »Ich kann’s mir denken. Und ich würde nichts lieber tun, als dir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich habe ja den gleichen«, setzt sie leise nach. »Ich wollte es dir schon sagen, als wir ans Meer gefahren sind. Aber ich konnte einfach nicht, und im Nachhinein war es gut so. Erinnerst du dich, in dieser Bar in Rimini hab ich dir gesagt, dass du den Moment in dir bewahren sollst, um ihn irgendwann wieder herauszuholen, wenn es dir mal nicht so gutgeht.«
»Wie hast du das ausgehalten, Martha? Unsere Gespräche über den Tod und das Sterben.« Er schlägt sich an die Stirn. »Ich Idiot hab dir sogar noch von balinesischen Bestattungszeremonien erzählt.«
»Du bist kein Idiot gewesen«, erwidert sie sanft. »Es war gut, dass wir über all diese Dinge geredet haben. Das hätten wir nie getan, wenn du Bescheid gewusst hättest. Du hättest Rücksicht genommen, und ich will keine Rücksicht. Ich will dich. Uns. Solange es uns noch gibt. Jeden Moment will ich mit dir leben.«
»Wirst du irgendwann ins Krankenhaus müssen, um dort …?« Er unterbricht sich und wendet den Blick von ihr ab.
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ich mache es selbst, Michele.«
Jetzt sieht er sie entsetzt an. »Du willst dich umbringen?«
»Der Krebs bringt mich um«, entgegnet sie. »Ich bestimme nur den
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