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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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und man nur hineingehen muss, um zuzugreifen.
    Er streicht über die glatte blaue Fläche des Ballons. »Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Was hältst du davon, wenn wir ihn vors Fenster hängen?«
    Sie lächelt, und gleichzeitig spürt sie, dass ihre Hände kalt werden. Sie steckt sie rasch unter die Wolldecke. »Guter Platz für einen Ballon«, erwidert sie.
    Er verschwindet in der Küche. Sie hört, wie er ein paar Schubladen aufzieht. Er kommt mit Hammer und Nagel zurück, steigt auf einen Stuhl, hält den Ballon in die Luft und sieht fragend zu Martha.
    Sie nickt. Sein Eifer und seine Freude tun ihr fast weh.
    Er schlägt den Nagel in die Wand oberhalb des Fensterrahmens. Der Ballon wackelt ein wenig, als Michele ihn an seinem neuen Platz anbringt.
    »Wir geben ihm unsere Wünsche mit auf seine erste Reise«, sagt er.
    Sie erwidert nichts.
    »Wir machen es wie bei den Sternschnuppen«, fährt er fort. »Jeder von uns denkt sich was aus, aber keiner darf es dem anderen verraten.«
    »Okay«, flüstert sie und schlingt die Arme um ihre Knie. Das Letzte, was sie sieht, bevor sie die Augen fest schließt, ist Michele, der mit dem Hammer in der Hand vor ihr steht und ebenfalls die Augen zukneift. Für Momente fühlt sie sich wie damals, als sie ein kleines Mädchen war, das Verstecken spielte und schnell bis zehn zählte, bevor es suchen durfte, was es sicher finden würde. Und dann nehmen ihre Gedanken Kurs auf den blauen Ballon. Sie wollen abheben, die Wünsche, wollen einfach fortfliegen, wollen da oben in der Unendlichkeit über den Wolken finden, was sie ihr Leben lang gesucht hat.
    Martha hält die Augen geschlossen, als könnte sie ihren Wünschen so die Bruchlandung ersparen.
    Als er sich wieder zu ihr setzt, sucht seine Hand unter der Wolldecke nach ihrer, die Finger verschränken sich ineinander, seine warmen und ihre kalten Finger. Sie verstärkt den Griff, will festhalten, was ihr zu entgleiten droht.
    »Martha, ist wirklich alles okay?« Micheles Stimme ist leise, als wollte sie die Zweifel nicht zu laut werden lassen. Aber die Zweifel sind da, und Martha weiß, dass Zweifel sich niemals mit Flüstern zufriedengeben.
    Ihr Kopfschütteln kommt von ganz allein. Irgendetwas in ihr zieht unsichtbare Fäden, die dieses Kopfschütteln auslösen.
    Sie hört ihn atmen, schneller als sonst.
    »Ich hab dich angelogen«, sagt sie und öffnet die Augen. »Da ist nichts mit meinem Kreislauf. Und eine Erkältung habe ich auch nicht.«
    Die Ratlosigkeit in seinem Blick tut ihr weh. Sie spürt schon Sekunden vorher, wie die Unbeschwertheit, die sie beide bislang getragen hat, schwankenden Boden betritt.
    Sie holt tief Luft. »Ich habe Krebs, Michele. Es dauert nicht mehr lange. Ich werde ganz bald nicht mehr da sein. Ich …« Sie verschluckt sich an dem, was sie sagen will. Ihr Husten macht Schluss mit irgendwelchen Erklärungen. Es gibt auch nichts mehr zu erklären.
    Micheles Hand verkrampft sich.
    Martha hält den Druck aus, während sie weiter hustet.
    »Bitte, gib mir ein Wasser«, stößt sie schließlich hervor.
    Er sieht sich suchend um, als sei er zum ersten Mal in diesem Raum. Sein Blick findet das Glas, das noch auf dem Tisch steht. Unvermittelt lässt er Marthas Hand los und greift nach dem Glas. Er tut das schnell, als müsste er sich sofort wieder irgendwo festhalten.
    Dann steht er auf und läuft zum Waschbecken.
    Sie hört, wie er den Hahn aufdreht. Und dann hört sie ihn weinen. Erst leise, schließlich immer lauter. Ein ungebremstes Weinen, dazu das Fließen des Wassers.
    Sie stemmt sich vom Sofa hoch, geht langsam in die Küche und dreht den Hahn zu. Sie nimmt Michele das Glas aus der Hand und stellt es neben der Spüle ab. Dann schließt sie ihre Arme um ihn. Dabei vergräbt sie ihr Gesicht in seiner Schulterbeuge, die sich durch das Schluchzen hebt und senkt.
    Minutenlang stehen sie so da.
    Als sie zu ihm hochsieht, ist sein Gesicht rot verquollen.
    »Weißt du es schon lange?«, fragt er. Die Frage geht in Schluchzen unter.
    Sie nickt.
    »Von Anfang an?«
    Noch ein Nicken.
    »Warum …?«
    Sie legt ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. »Nicht weiterfragen«, flüstert sie. »Du weißt es doch.«
    Jetzt ist es an ihm zu nicken, und sofort fließen neue Tränen.
    Sie streichelt über seinen Kopf, seinen Nacken, seine Wangen. Sie küsst ihm die Tränen weg, immer wieder. Als ihre eigenen dazukommen, kapitulieren ihre Lippen.
     
    Martha kann sich später nicht mehr

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