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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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Zeitpunkt, wann es so weit ist.«
    »Aber wie, um Gottes willen? Was hast du vor? Du kannst doch nicht einfach …«
    »… sterben? Das tue ich sowieso. Ich möchte nur nicht an Infusionen hängen und mit Gift vollgepumpt werden und als Letztes eine Wand in einem Krankenzimmer sehen. Bitte, Michele, versteh doch. Ohne dich wäre ich vielleicht längst zusammengebrochen. Du hast mir immer was von Chi erzählt und von Prana, dem universellen Atem. Aber was nützt mir dieser Atem an einer Beatmungsmaschine?«
    Seine Augen werden wieder feucht, aber diesmal kommen keine Tränen. Er hält sie zurück, und sie ist ihm dankbar.
    »Das ist zu viel für dich, ich weiß«, sagt sie. »Ist es für mich ja auch. Wir haben alles Mögliche gelernt in unserem Leben, wie man seine ersten Schritte macht und eine Scheidung übersteht und seine Kinder großzieht, aber niemand hat uns gesagt, wie das mit dem Tod ist. Damit haben wir nun mal keine Erfahrung.« Sie rückt etwas näher an ihn heran. »Ich brauche dich«, flüstert sie. »Sei einfach da, wie du in den letzten Wochen da gewesen bist. Sei der Michele, den ich liebe. Versprich mir, dass du mich nicht bemitleidest und dich selbst auch nicht. Hey«, sie stupst ihn an, »sonst kriegen wir noch unseren ersten richtigen Streit.« Sie lächelt.
    »Ich vermisse es jetzt schon«, sagt er und fährt mit seinem Zeigefinger über ihren.
    »Was?«
    »Dein Lächeln.«
    »Es wird immer da sein«, erwidert sie, »auch wenn ich nicht mehr da bin.«
    Dann steht sie auf, nimmt den Eimer und trägt ihn in die Küche. Sie schüttet das Wasser in die Spüle und wringt den Lappen aus. Sie sieht sich suchend nach einem Handtuch um, und als sie keins findet, wischt sie ihre Hände an Micheles Strickjacke ab und geht langsam zu ihm zurück.
    Er sitzt noch immer am Boden, die Streichholzschachtel liegt geöffnet neben ihm. Sie bückt sich, greift danach und schließt sie.
     
    Draußen spielt der Wind unaufhaltsam mit den Ginkgobäumen. Als Martha die Schachtel in das Körbchen des kleinen blauen Ballons legt, schaukelt er leise.

[home]
    19
    E s ist eines dieser Dörfer, wie es viele in Italien gibt. Ein Dorf, das sich seinen Platz gesucht hat, um für alle Zeiten die Aussicht zu genießen. Weit oben, wo der Blick davonfliegen kann. Um Castello und Chiesa und Convento liegen ein paar Sträßchen mit Kopfsteinpflaster. Es gibt eine Piazza, eine Bar, sogar einen Fischladen. Letzteren, weil es nicht weit ist zum Meer, das man hier zwar nicht sehen, aber fühlen kann. Die Nähe zum Meer spürt man immer; es ist, als ob die Luft einen Zusatzstoff hätte, der Weite verheißt.
    Es ist Samstag, und es ist kurz nach drei Uhr am Nachmittag, als Marthas alter Lancia die Straße nach Verucchio hinauffährt. Hans sitzt am Steuer, Martha neben ihm, Lina auf dem Rücksitz.
    Der Kassettenrekorder spielt
Everybody Knows
von Leonard Cohen. Dieses Auto hat noch keinen CD -Player, und das Band hat den typischen Klang von Bändern, die bereits viele Strecken zurückgelegt haben. Vor und zurück.
Everybody knows that the boat is leaking. Everybody knows that the captain lied. Everybody got this broken feeling like their father or their dog just died.
    Hans und Martha singen mit, sie kennen den Text. Lina kennt den Text nicht, sie sieht schweigend aus dem Fenster.
     
    Vor drei Tagen hatte Martha ihre Tochter gebeten, zu Hans in den Turm zu ziehen. Das war nach der Nacht, in der sie Michele alles gesagt hatte. Sie ging morgens in ihr Appartement, kochte Kaffee für zwei und trug das Tablett mit den Tassen zu der Couch, auf der Lina gerade die Augen aufschlug. Sie machte nicht viele Worte, sondern strich der Tochter über den Kopf und sagte, sie werde ihre Sachen packen und zu Michele gehen.
    »Ich liebe dich«, sagte sie noch. Linas erstaunter und gleichzeitig abwehrender Blick zeigte, dass sie das erst viel später verstehen würde.
    Hans, den Martha kurz darauf anrief, verstand sofort.
    »Sei nachsichtig mit ihr und verwöhn sie ein bisschen«, bat sie ihn, und obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie, dass er nickte. »Wir treffen uns dann am Samstag zu dem Geburtstagsessen. Ich hole euch ab.«
    Sie gab in der Schule Bescheid, dass sie nicht mehr zum Unterricht kommen würde. Sie habe genug gelernt, erklärte sie der verblüfften Ornella im Sekretariat.
    Von da an verbrachte sie jede Minute mit Michele. Manchmal machten sie noch einen Spaziergang durch die Arkaden, abends, wenn die Gitter des großen Marktes in

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