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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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ohne Betäubung dastehen. Das erste Mal seit drei Tagen realisiert sie, was wirklich los ist. Sie sieht sich selbst an diesem Tisch sitzen, an dem es sich ihre Freunde gutgehen lassen: eine Frau mit vom Wein geröteten Wangen, in deren Inneren etwas frisst, ein gieriges Ungeheuer, das alles daransetzt, damit sie ihren nächsten Geburtstag nicht mehr wird erleben können.
    Und da kommt Ingrid ihr mit diesem billigen Satz, der den paar hunderttausend Minuten Leben, die ihr bleiben, das Recht abspricht, mit beiden Händen zuzulangen, nach allem zu greifen, was die Tage ihr anbieten.
    Marthas leises »Wie meinst du das?« ist so etwas wie ein Spiel auf Zeit, und als alle am Tisch zu ihr sehen und Ingrid noch versucht, mit einem »Ach, ich meine ja nur … Wer kann denn schon tun, was ihm gefällt?« die Situation zu retten, schlägt Martha zu.
    Feiglinge nennt sie die Menschen, die jetzt die Gläser abstellen und betreten auf die Tischdecke mit den Brotkrümeln blicken – und meint damit in erster Linie sich selbst. Weiß sie doch nur zu gut um die Furcht, die sie bislang davon abgehalten hat, einfach mal die Spur zu wechseln.
    Ja, sie hat ihn stets gewollt, den Vollkaskoschutz gegen das Leben. Die Prämien waren ein sicheres Einkommen, ein sicherer Gefühlshaushalt, ein sicheres Netz halbwegs guter Freunde. Nur einmal, damals, als die Sache mit Hans passierte, spürte sie sich selbst. Es machte ihr Angst, was da in ihr zum Großbrand ansetzen wollte, und sie brachte gegen Liebe und später gegen Wut und Verzweiflung ihre Feuerlöscher in Stellung und hielt drauf auf die Emotionen, bis nichts mehr lodern konnte und letztlich alles verglühte.
    »Sie sind erstaunlich gefasst«, sagte ihr Anwalt zu ihr, als sie sich vor dem Gerichtsgebäude die Hand gaben. Und sie verbuchte das als Punktsieg für sich. Verriegelte die Tür zu ihrem Herzen, warf den Schlüssel in hohem Bogen weg und nahm ihr Tagesgeschäft wieder auf. Da gab es ihre Tochter, ihren kranken Vater, ihre Artikel. Und es gab die Hypothek, die noch immer auf dem Reihenhaus liegt, diesem Haus in der spießigen Kleinstadt an der Ostsee. Diesem Haus, in das Hans und sie zogen, als Lina zwei Jahre alt war – damit das Kind spielen konnte in dem grünen, von Koniferen umsäumten Quadrat, das sich Garten nannte.
    »Carpe diem ist immer eine Option.« Damit trotzt Martha jetzt vor ihren versammelten Freunden geradezu auf. Stellt zur Disposition, was ihr bislang die Illusion von Sicherheit geboten hat. Wie ein in die Jahre gekommener Akrobat, der in seiner letzten Vorstellung noch mal alles geben will und vor dem finalen Salto das Netz einziehen lässt. Flieg oder stirb.
    Pflichten und Verantwortung fegt sie mit einem einzigen Handstreich vom Tisch und spürt gleichzeitig ungläubiges Erstaunen und unbändige Erleichterung. Die Irritation, die sie auslöst, registriert sie kaum, und erst als Lina nach ihrer Hand greift, zuckt sie zusammen.
    Die Blicke ihrer Tochter holen sie zurück in das, was sie sich bis jetzt als ihr Leben verkauft hat. Als sie sich die Haare aus der Stirn streicht, weiß sie, dass sie genau dieses Leben wird verlassen müssen.
    Ihr »Entschuldigt, bitte« klingt halbherzig. Ihr »Bin gleich wieder da« ist bereits Lüge, als die Worte noch im Raum hängen.
     
    Sie läuft nach oben in ihr Schlafzimmer, reißt die Türen des Kleiderschranks auf, holt ihre alte braune Reisetasche heraus und wirft ungeordnet Hosen, Kleider, Blusen, Pullover, Slips, Strümpfe, Nachthemden, Röcke hinein. Sie faltet nichts ordentlich, wie sie es sonst immer tut; es ist vielmehr ein Knüllen und Stopfen, bis nichts mehr hineinpasst und der Reißverschluss nur noch mit Mühe zugeht.
    In ihrer Handtasche sind Geld und Pass und das Notizbuch mit den wichtigsten Telefonnummern. Ihr Handy legt sie auf den Nachttisch. Sie wird sich ein neues besorgen. Im Badezimmer greift sie nach dem Nötigsten. Creme, Bürste, Zahnputzzeug. Unten im Flur steckt sie drei Paar Schuhe in eine Plastiktüte. Die Tasche mit ihrem Laptop hängt sie sich über die Schulter, bevor sie die Haustür öffnet und mit einem entschiedenen Ruck hinter sich schließt.
     
    In der Garage verstaut sie das wenige Gepäck im Kofferraum des Lancia. Dann setzt sie sich hinter das Steuer, lässt den Motor an und schaltet in den Rückwärtsgang. Das rote Schlauchboot an der Wand wird kurz von dem Abblendlicht beleuchtet. Warum hab ich es eigentlich nie entsorgt?, denkt Martha.
    Dann gibt sie Gas.

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