Das unendliche Blau
zuzieht.
Draußen begrüßt sie das Leben. Es ist kurz nach sieben Uhr, und es ist warm wie im Hochsommer. Die Leute sind auf den Straßen und Plätzen, ein einziges Flanieren und Parlieren, so scheint es Martha. Sie lässt sich mittreiben, gibt sich dem Menschenstrom hin, der sie mal hierhin, mal dorthin trägt. Die Woge einer schönen, fremden Sprache umgibt sie, spült Laute an ihre Ohren, die sich nach großer Oper anhören.
Ja, sie wird Francesca anrufen, und sie wird bei ihr in der Schule Italienisch lernen. Sie wird Vokabeln und unregelmäßige Verben und Zeitformen lernen. Ich habe gelebt. Ich lebe. Ich werde leben – und wenn auch nur für ein paar Monate. Sie wird den Indikativ zu ihrer Daseinsform machen; den Konjunktiv mit seinen ewigen Vorbehalten wird sie entsorgen. Was soll sie noch mit diesem ständigen
hätte, könnte, wäre, müsste?
Sie braucht diese Worte nicht mehr, Worte, die bereits prophylaktisch den integrierten Airbag auslösen, um dem Leichtsinn schon vorab die Lust am Kick zu nehmen, ihn die Knautschzone erst gar nicht ausreizen zu lassen.
Martha fühlt sich leicht mit diesen neuen Gedanken im Kopf. Leicht wie lange nicht mehr.
Als sie die Piazza Maggiore betritt, bleibt sie einen Moment vor einem großen Brunnen stehen. Ein riesiger Neptun mit Dreizack sieht auf sie herab, umgeben von wasserspeienden Nymphen. Von der Hauptstraße hört man, wie Motorroller und Autos und Busse zwei hoch in den Himmel ragenden schiefen Türmen mit Vollgas entgegenbrausen.
Tauben trippeln über das Pflaster, immer wieder aufgescheucht von Kindern, die sich einen Spaß daraus machen, die Vögel zum Fliegen zu animieren. Junge Leute sitzen rings um den Brunnen, spielen Gitarre, lesen, rauchen, reden.
Und dann öffnet sich der Platz hin zur großen Bühne. Rechts der Glockenturm, der gerade zur achten Stunde schlägt, links Palazzi und Geschäfte unter Arkaden, vis-à-vis die große Kirche, von der Martha später erfährt, dass sie San Petronio heißt, gegenüber Cafés, in denen man den Abend mit einem Aperitif eintrinkt.
Auf der Piazza Familien mit Kinderwagen, Touristen mit Kameras, Liebespaare mit Augen nur füreinander. Viele sitzen auf der breiten Treppe vor dem Kirchenportal, so viele, dass Plätze fast rar sind. Es scheint die Zeit für Küsse, in denen bereits Lust auf die Nacht liegt. Eine Band, die gerade ihre Instrumente aufgebaut hat, liefert den passenden Soundtrack. Die vier Leute versuchen sich an alten Pink-Floyd-Titeln, und als Martha sich neben ein Pärchen auf eine der Treppenstufen setzt, beginnen die Musiker mit
The Wall.
Irgendwie scheint das, was da aus den Lautsprechern kommt, die Menschen auf dem Platz zu verbinden. Einige summen mit, andere bewegen sich im Takt der Musik, und es gibt nicht wenige, die einfach in den blauen Abendhimmel sehen, als stünden da oben irgendwelche Antworten auf die mehr oder weniger entscheidenden Fragen des Lebens. Oder vielleicht auch nur ein paar federleichte Spätsommer-Illusionen.
Martha stützt ihre Ellbogen auf die Knie, legt ihr Kinn in die Hände und holt tief Luft. Eine Taube landet zu ihren Füßen und pickt etwas auf, das sie wohl für Brotkrümel hält, dabei wackelt sie fast übertrieben mit dem Kopf. Martha lächelt, und der Mann neben ihr, der seine Freundin im Arm hält, fängt ihr Lächeln auf und wirft ihr seines zurück. Ein kleines Tauschgeschäft, nur dazu da, für einen Moment die Seele zu wärmen.
Sie ist allein in dieser Stadt, sitzt unter fremden Leuten auf einem fremden Platz irgendwo im Süden, Hunderte Kilometer entfernt von dem Ort, der bislang ihr Zuhause gewesen ist, und merkt auf einmal, dass sich etwas in ihr zu regen beginnt. Etwas, das mit traumwandlerischer Sicherheit in Winkel ihres Innersten kriecht, die sie bis dahin kaum gekannt hat.
Sie steht auf und schlendert in eine Seitengasse rechts von der Kirche. Ihr Blick wandert erst an der Backsteinfassade hoch, bevor er langsam die Richtung ändert und sich gegenüber in einer Bar niederlässt. Bequeme Stühle aus dunklem Korbgeflecht stehen dort unter großen hellen Sonnenschirmen. Vor dem Eingang sind zwei mit Eiswürfeln gefüllte Fässer aufgestellt, in denen Weißwein- und Spumante-Flaschen gekühlt werden, daneben Bänke und kleinere Tische, auf denen Kerzen flackern, die man in Gläsern vor dem leichten Wind schützt, der von der Piazza herüberweht.
»Signora?«
Ein Kellner steht vor ihr. Er trägt ein dunkelviolettes Hemd und eine schwarze
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