Das unendliche Blau
Tresen, zwischen einer älteren Dame, die gerade Zucker in ihren Espresso rührt, und einem Mann in tadellosem Anzug, der irgendetwas in sein Handy spricht und dabei in großen Schlucken das Wasser trinkt, das in kleinen Gläsern zum Kaffee serviert wird.
»Un cappuccino, per favore«, stammelt sie, als der Kellner hinter der Bar sie fragend ansieht.
Er ruft ihre Bestellung einem Kollegen zu, der eine riesige Espressomaschine bedient – Kaffee in die Siebbehälter gibt, das Pulver andrückt, die Behälter einhakt und mit viel Dampf die heiße Flüssigkeit in die Tassen laufen lässt, dazwischen Milch aufschäumt und zugibt. Es ist eine Choreographie, die die beiden Männer in weißen Hemden und schwarzen Westen hier aufführen. Tellerchen auf den Tresen, Löffel darauf, Wassergläser daneben, schließlich die dampfenden Tassen. Im Sekundentakt. Die von den Gästen aufgegebenen Bestellungen wirken dabei wie ein unermüdlich schlagendes Metronom.
Martha zeigt auf das Gebäck.
Der Kellner sieht sie fragend an. »Un croissant?«
Sie nickt. »Si, si.«
»Con crema o con cioccolata?«
Sie runzelt die Stirn.
Ein winziges Lächeln, nur einen Moment sichtbar. »With cream or with chocolate?«
»Cream, please.«
Das Hörnchen ist warm und kross, außen mit Puderzucker bestäubt und innen mit einer weichen Vanillemasse gefüllt. Der Cappuccino dazu ist stark und heiß. Kaum etwas hat Martha seit langem so gut geschmeckt. Sie leckt sich zum Schluss kurz mit der Zunge die Milch- und Zuckerreste von den Lippen. Dann stellt sie sich an der Kasse in die Schlange und zahlt ihr erstes Frühstück.
Die Piazza Maggiore wirkt geschäftig. Nichts mehr ist zu spüren von dem Müßiggang vor nicht einmal zwölf Stunden. Ein Straßenreinigungsfahrzeug lässt seine Besen übers Pflaster rotieren.
Martha holt sich in der Touristeninformation einen Stadtplan und sucht darauf die Via Castiglione. Erleichtert stellt sie fest, dass die Adresse nur ein paar Straßen entfernt liegt.
Sie steckt den Plan in ihre Tasche und wendet sich nach links. Von dort führen kleine Gassen ab. Sie entscheidet sich für eine davon und ist plötzlich mitten in einer engen Marktstraße. Links und rechts Läden, in deren Auslagen Schinken und Salamis hängen und ständig frische Pasta nachgelegt wird. Obst- und Gemüsestände, die anbieten, was die Jahreszeit hergibt. Fischläden, in denen Rotbarben und Doraden und Kraken und Venusmuscheln und Tintenfische in großen Styroporkartons auf Käufer warten. Man muss aus einem kleinen Apparat eine Nummer ziehen, um irgendwann von einem der Männer, die weiße Gummischürzen und blaue Gummihandschuhe tragen, aufgerufen zu werden. Nichts geht leise vonstatten. Die Fische werden am Schwanz gepackt und hochgehalten und begutachtet, und wortreich wird kommentiert, was da in mehreren Lagen Einwickelpapier verschwindet. Die Verkäufer haben halb gerauchte Zigaretten in den Mundwinkel geklemmt, und während sie die Ware aussuchen, fällt manchmal etwas Asche in das Eis, das alles kühl hält.
Martha hat plötzlich Lust zu kochen. Das erste Mal seit Jahren hat sie wieder Lust zu kochen. Nicht nur was schnell Aufgewärmtes, um sich und Lina den Magen zu füllen, sondern diese Fische hier. Mit Tomaten, Knoblauch, Olivenöl, Kräutern. Wann hat sie zum letzten Mal am Herd gestanden und Musik gehört und einfach nur Spaß gehabt an dem, was sie tat? Es muss zu einer Zeit gewesen sein, als Hans noch seine Arme von hinten um sie gelegt und in die Töpfe hineingerochen und ihr gesagt hatte, was für einen sagenhaften Hunger er habe. Ja, es hatte sie gegeben, diese Zeit, in der Hunger ihr Leben bestimmte und in der sie nicht satt wurden, weil alles, was sie sich gaben, leicht war und Aromen lieferte, die Appetit machten auf mehr. Dass die Dinge irgendwann schal schmeckten, bemerkte Martha anfangs kaum. Und als sie es bemerkte, war es zu spät.
Jetzt sieht sie auf ihre Uhr. Sie muss sich beeilen, um pünktlich in der Schule zu sein.
Mit dem Stadtplan in der Hand orientiert sie sich in den Gassen, bis sie irgendwann in einer etwas breiteren Straße steht. Sie sucht die von Francesca angegebene Hausnummer. Ein alter Palazzo. Ein Gebäude wie eine Festung. Links neben einer schweren Holztür ein Schild aus Messing mit vielen Namen darauf. Ganz oben rechts findet Martha das Kulturinstitut. Sie drückt auf den Klingelknopf daneben und erhält ein kurzes Surren zur Antwort. Sie muss sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen
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