Das unendliche Blau
Vögel, die über den Köpfen der alten Leute kreisen, die sich hier zu den Mahlzeiten einfinden und die selbst kaum mehr essen als ein Spatz. An guten Tagen nimmt Marthas Vater ihre Hand und hält sie fest, und sie meint, in seinen Augen so etwas wie Erkennen auszumachen. Ihr Name ist ihm im vorletzten Herbst entfallen, und wenn sie ihn Papa nennt, bekommt sie manchmal ein Lächeln. Meistens bekommt sie allerdings nur einen verständnislosen Blick. Und sie beschließt, nicht weiter zu beharren auf Erinnerungen, die nicht mehr seine sind. Sie glaubt, dass es ihm guttut, wenn sie ihn in den Arm nimmt; das muss genügen. Wenn er noch etwas durchhält – und die Ärzte meinen, das werde er, sein Herz sei stark –, dann ist sie nun wohl vor ihm dran mit dem Sterben. Er wird es nicht mal mehr mitbekommen, wenn sie geht.
Schließlich sind da noch Freunde. Und Kollegen. Drei wissen von ihrer Krankheit, Ingrid ist eine davon. Doch niemand weiß von dem, was ihr seit drei Tagen Lebenszeit raubt. Sie wird diese Menschen, die Jahre ihres Lebens mit ihr geteilt haben, lange nicht sehen. Die meisten wird sie vielleicht sogar niemals mehr sehen.
Sie wird die Aufträge, die sie bis letzte Woche angenommen hat, ins Leere laufen lassen. Die Artikel werden von ihr nicht mehr geschrieben werden. Sie will keine Interviews mehr führen, niemanden mehr nach seinem Leben befragen. Sie will ihr eigenes, ihr restliches Leben führen und sich den Fragen stellen, auf die sie bisher keine Antworten gefunden hat.
Vor München fährt sie auf den Parkplatz einer Raststätte, stellt den Motor ab und fällt augenblicklich in einen Schlaf, der kurz ist und ihr wirre Träume hinwirft. Solche, die nur skizzieren und nichts zu Ende bringen. Halbwachzustände, die sich nicht über die Grenze trauen.
Als sie nach etwa zwei Stunden wieder aufwacht, reibt sie sich die Augen. Neben ihr stehen Lkws und Wohnwagen. Ein Grünstreifen, ein paar Büsche, einige Mülleimer. Etwa hundert Meter weiter streuen die Lichter der Tankstelle etwas Neon in den Morgen.
Sie greift nach ihrer Handtasche, zieht den Zündschlüssel ab und steigt aus. Ihre Glieder fühlen sich steif an, sie streckt sich, registriert Verspannungen in Schultern, Armen, Beinen.
Der Kaffee, den man ihr im Tankstellen-Shop hinstellt, schmeckt nach billigem Pulver. Doch er ist wenigstens heiß. Sie reißt die Verpackung von der Kondensmilch ab, dabei spritzt etwas von dem Zeug auf ihre Jacke. Sie wischt mit der Hand darüber, dann rührt sie die restliche Milch mit dem Plastikpaddel, das ihr die Frau hinter der Theke neben den Pappbecher gelegt hat, in das, was sich hier Kaffee nennt.
Während sie trinkt, sieht sie auf Plüschtiere, die als Maskottchen verkauft werden. Sie sieht auf Plastikfeuerzeuge in verschiedenen Farben. Und sie sieht auf ein großes Regal mit Zeitschriften. In einem Heft ist sogar ein Artikel von ihr, sie hat ihn im letzten Monat geschrieben. Ein Porträt über eine Tänzerin, die nach einem Unfall nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten kann und die nun ein Buch schreibt. Eine dieser Krise-als-Chance-Storys, von denen sie schon so unsäglich viele verfasst hat. Geschichten, die Mut machen sollen. Und während Martha den letzten Schluck der mittlerweile lauwarmen Brühe trinkt, addiert sie mal schnell die Chancen, die ihr noch bleiben. Bei der Summe, die diese Kopfrechenaufgabe unter dem Strich ergibt, verzieht sie das Gesicht, und die Frau, der sie einen Fünfeuroschein hinlegt, fragt fast entschuldigend: »War der Kaffee so schlecht?«
Martha muss unwillkürlich lachen. »Nein, schon okay.«
Die Frau zählt ihr das Wechselgeld hin. »Ich weiß, das Zeug kann man nicht trinken. Und teuer ist es auch noch.«
»Na, es wärmt wenigstens.« Sie wirft dreißig Cent in ein kleines grünes Sparschwein.
»Danke Ihnen. Wohin geht’s denn heute noch?« Sie ist höchstens Anfang dreißig, und sie hat freundliche braune Augen, die Martha neugierig ansehen.
»Nach Italien.«
»Urlaub?«
Martha beißt sich kurz auf die Unterlippe. »Ein bisschen länger als Urlaub«, sagt sie dann.
»Wie lange?«
»Ein paar Monate.«
»Sie Glückliche.«
Sie spürt, wie sofort alles in ihr auf Abwehr umschalten will. Doch dann wird ihr plötzlich klar, was diese Frau an dieser Tankstellenkasse, die den Leuten tagaus, tagein schlechten Kaffee auf den Tresen stellt, eigentlich meint. Ja, verdammt noch mal, es ist ein Glück, nach Italien zu fahren. Sie wird neue Gleichungen aufstellen
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