Das unendliche Blau
anderen Hinterhof hinausgehen als den, durch den sie gekommen ist. Einer, in dem große Bäume stehen.
Er folgt ihrem Blick. »Ginkgos«, erklärt er. »Das sind Ginkgobäume.«
Sie lächelt. Jetzt ist ihr Lächeln frei, als hätte es Ausgang bekommen. Ohne irgendwelche Auflagen. Ein Lächeln ohne Bewährung.
Sein Blick fällt direkt in ihren. »Das steht dir«, sagt er.
»Was?«
»Dein Lächeln.« Er holt Luft und widmet sich seinem Telefon. Sie hört zu, obwohl sie nichts versteht von dem, was sie hört. Da ist nur ein Name, der immer wieder fällt – Maria. Micheles Stimme klingt ungehalten. Irgendwann sagt er abrupt »Ciao«, drückt das Gespräch weg und steckt das Handy in die Hosentasche.
Martha sieht unverwandt aus dem Fenster. Der Himmel sendet Blau in den Raum. Der Mann hinter ihr seufzt.
Einige Momente sagt keiner von ihnen etwas. Bis sie sich räuspert. »Schwierigkeiten?«
Er tritt neben sie, teilt sich mit ihr das Himmelsblau, das sich da draußen so verschwenderisch gibt. »Ich will das alles nicht mehr«, sagt er leise.
Und ihr scheint es in diesem Moment das Selbstverständlichste, nach seiner Hand zu greifen. Sie hat so etwas noch nie getan. Er ist schließlich ein fremder Mann. Aber plötzlich klopfen sie bei ihr an, die verbleibenden Sekunden, die sie in einer ihrer letzten durchwachten Nächte zu Hause zusammenaddiert hat. Diese Sekunden, die von Stunde zu Stunde zusammenschmelzen wie Butter in der Sonne, verlangen nach Aufmerksamkeit. Und während Marthas Finger Nähe suchen, scheint ihr die Verschwendung von Zeit auf einmal absurd. Von diesem Augenblick an will sie nichts mehr auf den Kompost ihres Lebens werfen in der Hoffnung, die Dinge würden sich dort schon recyceln. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen; letztlich ist nur verschimmelt, worauf sie Hoffnung gesetzt hat.
Micheles Hand fühlt sich dünn an. Dünn und kühl und ein wenig verschwitzt. Seine Finger bewegen sich zunächst etwas unschlüssig hin und her, als müssten sie ihre Position erst noch suchen. Sekunden später finden sie und willigen ein.
Sie bleiben einfach so stehen, Hand in Hand. Eine Minute fließt in die nächste; es gibt keine Eile mehr. Die Zeit scheint ausgehebelt, als hätte man seinen Wecker etwas zurückgestellt, um das Klingeln, das einen in den Tag hineinwirft, noch ein wenig hinauszuzögern.
Sie bewegen ihre Finger nicht, lassen nur geschehen, was sich verbinden will. Sie sehen in das Geäst des Ginkgobaums, als würde sich dort in den Zweigen ein Weg auftun. Doch die herzförmigen Blätter bleiben ihnen eine Antwort schuldig. Sie taumeln nur nachlässig im Wind.
Die Stones sind bei
Take It Or Leave It
angekommen, und Martha streift der Gedanke, dass sie schon lange nicht mehr gedacht hat, ein Songtitel würde zu ihrer augenblicklichen Stimmung passen.
Es ist Michele, der irgendwann den Druck seiner Hand verstärkt, um kurz danach unvermittelt loszulassen.
»Gehen wir?«
Sie sucht mit den Augen den Platz, wo sie ihre Tasche abgelegt hat. Ihr Blick strauchelt ein wenig. Dann wendet sie sich langsam zum Tisch, dreht sich zu ihm um und nickt.
Es ist wirklich nicht weit. Michele passiert mit ihr drei Querstraßen und biegt dann nach links. Sie laufen durch schmale dunkle Arkaden. Vorbei an graffitibemalten Jalousien, die um diese Nachmittagszeit nicht preisgeben wollen, was für Läden sich dahinter verbergen. Vorbei an einem alten Theater, das hinter schmutzigen Scheiben sein Programm anzeigt; ob eines, das bereits gelaufen ist, oder eines, das noch kommen soll, kann Martha nicht erkennen. Ihr Italienisch reicht für solche Details noch nicht aus.
Als Michele einen Schlüssel aus seiner Hosentasche holt, verlangsamt sie synchron mit ihm ihren Schritt. Er bleibt vor einer großen Holztür stehen, auf der ein Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfs angebracht ist.
Der Hausflur ist dunkel; Martha tritt ein und sieht sich unwillkürlich nach einem Lichtschalter um. Michele greift an ihr vorbei und drückt auf einen Knopf an der Wand. Die Lampen, die jetzt leicht flackernd ihre Glühbirnen anwerfen, leuchten das Treppenhaus nur spärlich aus. Schmiedeeisernes Geländer, mattgrün lackierte Wand, Holztreppen.
»Es ist ganz oben«, erklärt Michele. »Im vierten Stock.«
»Kein Aufzug?«
Er lacht. »Nein.«
Sie bleibt hinter ihm zurück. Im dritten Stock bekommt sie leichte Atemnot, schnappt nach der verbrauchten Luft in diesem Treppenhaus.
Er tut, als würde er nichts bemerken,
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