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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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Baumwollhose und T-Shirt hat er gegen Jeans und weißes Hemd getauscht.
    Martha bleibt kurz stehen und sieht durch die großen Scheiben des Cafés, hinter denen Platten und Etageren mit Sandwiches, Oliven und Pasteten aufgebaut sind. Hin und wieder kommt einer der Gäste vorbei und bedient sich. Kellner sind ohne Unterlass damit beschäftigt, wieder aufzufüllen, was zu Ende geht.
    Sie zögert einzutreten. Was soll sie sagen? Sie kennt keinen dieser Menschen; sie spricht noch nicht einmal ihre Sprache. Sie hat eingewilligt, auf eine Lesung zu gehen, von der sie kein Wort verstehen würde.
    In diesem Augenblick hat Michele sie entdeckt. Er winkt sie herein, und plötzlich spürt sie etwas in ihrem Inneren. Etwas, das da sonst nicht ist. Etwas wie Flügelschlagen.
    Er löst sich aus der Gruppe und kommt auf sie zu. Wie selbstverständlich legt er den Arm um ihre Schultern und schiebt sie dorthin, wo die anderen Leute stehen, die sie jetzt neugierig ansehen.
    Er sagt ein paar Sätze in die Runde, und sie vernimmt zweimal ihren Namen. Martha. Noch nie hat ihr Name so weich geklungen.
    »Schön, dass du da bist.«
    Erleichtert hört sie die deutschen Worte. »Ja«, gibt sie zurück. »Ich freu mich auch.«
    »Magst du etwas trinken?«
    »Ja, gern.«
    »Spumante?«
    Sie nickt.
    Michele winkt den Kellner heran, und eine halbe Minute später steht ein Glas vor ihr. »Mein zweites heute schon«, sagt sie und nimmt einen kleinen Schluck.
    »Und sicher nicht dein letztes.«
    Sie winkt ab. »Ich vertrage nicht viel.«
    »Du bist in Italien, Martha.«
    »Das heißt …«
    »Das heißt, du vergisst jetzt einfach mal deine deutschen Prinzipien.«
    »Ich habe keine Prinzipien.«
    Er lacht.
    Sie lacht auch. Und sie merkt, dass die Leute um sie herum aus dem Bild rücken. Es kommt ihr vor, als würden die Ränder ihrer Wahrnehmung unscharf. Da gibt es nur noch sie und ihn. Wie selbstverständlich nehmen sie beide wieder auf, was sie am Nachmittag begonnen haben. Einem Karussell gleich, das sich in Bewegung setzt und von Minute zu Minute an Fahrt gewinnt. Plötzlich ist da keine Schwere mehr, sondern nur noch freier Flug.
    Kurz fragt sich Martha noch, was mit ihr passiert, aber dann will sie es gar nicht mehr wissen. Sie will nur noch sein. Jetzt, in diesem Augenblick sein. Diesem unverdünnten Augenblick, den keine Vergangenheit, keine Zukunft verwässern kann.
    Ihre Blicke berühren sich. Ihre Hände tun es nicht. Noch nicht. Sie wollen warten. Es gibt dieses süße Warten auf etwas, von dem man weiß, dass es unweigerlich kommt. Man zögert hinaus, und jeder Moment trägt bereits den Geschmack von Vorfreude in sich.
     
    Gegen neun Uhr verlassen sie das Café. Francesca ist inzwischen angekommen. Sie fragt Martha nach der Schule und dem Appartement, während sie zusammen ein paar Schritte gehen. Sie fragt auch nach Streichhölzern.
    Martha gibt Auskunft und Feuer. Fast mechanisch tut sie das, und irgendwann scheint Francesca zu merken, dass sie sich in einem Raum befindet, der nur von Martha und Michele besetzt wird. Ein Raum, in dem kein Platz mehr ist für eine weitere Person. Ein Raum, der sich mit Andeutungen füllt, die mit Ich und Du spielen und hinter sich leise die Tür ins Schloss fallen lassen.
    Francesca gibt ihrem Bruder einen Klaps auf den Po, so einen schwesterlichen Klaps, der es einfach nur gut meint. Martha schenkt sie ein Augenzwinkern, bevor sie sich unter die Leute in der Gruppe mischt.
    Das alte Universitätsgebäude liegt gleich neben dem Café. Unter Arkaden öffnet sich ein Tor hin zu einem Innenhof. An den Wänden hängen unzählige Familienwappen von unzähligen Professoren, die hier vor Jahrhunderten gelehrt haben. Eine blütenumrankte verwitterte Inschrift, fast ein kleines Fresko, weist darauf hin, dass man nicht mit Fahrrädern in den Hof fahren solle.
»Vietato introdurre biciclette«.
    Auch Verbote können schön sein, fährt es Martha durch den Kopf, und plötzlich denkt sie an die Verbote zu Hause in Deutschland.
    »Patienten haben keinen Zutritt.« Ihr Blick traf auf das weiße Schild mit roter Schrift an einer Eisenpforte neben dem Haupteingang zur Onkologie, als sie vor gerade mal einer Woche dort stand und suchte. Irgendetwas suchte, an dem sich ihre Ängste festhalten könnten. Und ihr sprangen diese roten Buchstaben ins Auge, die den kranken Menschen untersagten, hier einzutreten. Martha sah durch die Gitterstäbe in ein von Mauern umgebenes Stück Grün, in dem zwei Bäume begannen, ihr Laub

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