Das unendliche Blau
auf einen Rasen abzuwerfen, um den sich lange niemand mehr gekümmert hatte. Unkraut wucherte dort, an einigen Stellen war das Gras welk und gelb geworden. In einer schattigen Ecke stand eine Bank, und Martha fragte sich, ob es wohl jemals ein Sonnenstrahl dorthin schaffte.
Jetzt schüttelt sie den Kopf, während sie ihre Erinnerungen wieder einsammelt, damit sie keinen Schaden anrichten können an diesem Abend. Sie fängt sie rasch ein mit einem engmaschigen Netz, das den Beifang der störenden Gedanken aussondert.
In dem Hof der alten Uni stehen Terrakottakübel mit Pflanzen, links und rechts führen breite Treppen in den ersten Stock, wo die Säulen von unten sich fortsetzen, eine zweite Runde bilden, wie ein Kreuzgang, nur hinter großen frisch geputzten Glasfenstern.
»Magst du den Anatomiesaal ansehen, bevor wir zur Lesung gehen?« Michele zeigt nach oben.
Sie zuckt zusammen. »Anatomiesaal?« Das Wort wirft Schatten auf ihr Gesicht.
Er lacht ihr Erschrecken weg. »Ja, eine Touristenattraktion, aber um diese Zeit wird niemand mehr dort sein. Wenn wir Glück haben, ist nicht abgesperrt.« Er nimmt ihre Hand und zieht sie zur linken Treppe.
Oben angekommen, zeigt er auf eine große Tür. »Da ist die alte Bibliothek. Ich gehe oft hierhin, wenn ich in Ruhe arbeiten will. Ich mag den kleinen Saal mit den grünen Leselampen und die konzentrierte Stille dort. Man spürt förmlich, wie alle um einen herum denken.«
»Du schreibst Romane, hat Francesca erzählt.«
»Na ja, um ehrlich zu sein, schreibe ich Romananfänge.«
»Warum kommst du nie zum Ende?«
Er kratzt sich am Kopf; ein paar Haarsträhnen lösen sich aus dem Gummi im Nacken. »Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich Anfänge spannender finde. Vielleicht auch, weil ich kein Talent für das Finale habe. Schluss machen liegt mir nicht.«
»Manchmal kommt man nicht daran vorbei.«
»Du meinst, das Leben fordert das hin und wieder ein?«
Sie nickt.
»Ach«, fährt er fort, »irgendwie glaube ich, dass in jedem Beginn eine Fortsetzung liegt. Dass die Dinge nie enden. Dass sie ihre Form wechseln, okay, aber sich stets neu erfinden. Wie die Acht; ich liebe diese Zahl. Egal, an welcher Stelle du dich in die Kurve legst, es gibt immer noch eine Runde.«
Sie sieht durch die Glastür zur Bibliothek, auf einen jetzt unbesetzten Empfangstisch mit Schlüsseln dahinter, fein säuberlich aufgehängt in vielen kleinen Fächern. »Wäre schön, wenn’s so wäre«, sagt sie leise.
Er steht neben ihr, lässt seinen Blick neben ihrem durch den langen Gang zum Lesesaal laufen. »Es ist so, Martha«, entgegnet er.
»Nie an ein Buch gedacht?«, wechselt sie das Thema. »Ich meine, ein fertiges, eines mit Anfang
und
Ende?«
Er grinst, und sie findet, dass ihn das jünger aussehen lässt. »Ich denke ständig daran. Dieser Freund, der da gleich liest, der hat’s wirklich drauf. Er schreibt ein Buch nach dem anderen. Alltagsphilosophie, aber die Leute reißen ihm das aus den Händen. Schon verrückt, die sind süchtig danach, dass ihnen jemand ihr Leben erklärt.«
»Vielleicht, weil sie’s selbst oft nicht begreifen.«
»Klar, wir sind alle auf der Suche nach Antworten. Deshalb suchen wir uns ja auch Gurus.«
»Ich hab’s nicht so mit Gurus.«
»Sieht dir ähnlich.«
»Wie meinst du das?«
»Verrate ich dir später.«
»Später?«
»Man muss die Spannung aufrechterhalten. Das ist Dramaturgie.«
»Dafür, dass du nur Anfänge schreibst, hast du ein gutes Gespür für den perfekten Plot.«
»Hey, das gefällt mir.«
»Was gefällt dir?«
»Du kannst frech sein.«
Sie dreht sich zu ihm. »Dieser Autor? Ist er ein guter Freund von dir?«
»Mein ältester – und bester. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, in Triest. Hier in Bologna haben wir dann studiert. Wir haben fast alles geteilt«, wieder dieses Grinsen. »Auch die Frauen.«
Sie lacht. »So genau will ich das gar nicht wissen.«
»Warum nicht? Du bist Journalistin. Und Journalisten sind neugierig.«
»Schreibst du auf Deutsch oder Italienisch?« Sie schlägt Haken, das weiß sie. Es ist wie Fangen-Spielen; als kleines Mädchen war sie gut darin gewesen, nie hatte jemand sie gekriegt, aber sie behielt die Lage stets im Blick, wusste genau, wie sie jemanden zur Strecke bringen konnte.
»Auf Deutsch«, erwidert er. »Die Romane schreibe ich in der Sprache meiner Mutter. Ich finde, dieses Wort hat etwas Anrührendes – Muttersprache.«
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