Das unendliche Blau
die unvermeidliche Kopfbedeckung der Menschen, die sich dieses Gift injizieren lassen, um der Krake in sich die Fangarme zu stutzen, und dabei die zunehmende Schwäche billigend in Kauf nehmen.
Sie trägt Mascara auf. Und Rouge. Und Lippenstift. Sie weiß, dass sie gefallen will. Das erste Mal seit Jahren will sie wieder einem Mann gefallen.
Draußen ist es mild. Eine Luft wie Seide, die sich mit den Abgasen der Motorräder parfümiert. Die Arkaden, durch die Martha läuft, lassen ein paar letzte Sonnenstrahlen durch. Sie dosieren das Licht sparsam, werfen es wie Scheinwerfer auf den Boden, der unterschiedlichste Mosaiken zeigt. Ein Wechsel an Mosaiken, vor jedem Hauseingang formieren sich neue Muster in Beige-, Braun- und Terrakottatönen, hier und da abgeschlagen durch die unzähligen Schritte unzähliger Menschen, die ihre Spuren auf dem Pflaster hinterlassen haben.
Ladenbesitzer beginnen, das, was sie vor ihren Schaufenstern in die Arkadengänge gestellt haben, hineinzuräumen. Übrig gebliebene Orangen, Salatköpfe, Auberginen. Einige lassen sogar schon die Rolläden herunter; andere zünden sich eine Zigarette an und tauschen ein paar Sätze mit dem Nachbarn. Eine Blumenhändlerin trägt einen Arm voller Rosen in ihr Geschäft. Ihre Blicke kreuzen sich, nehmen Kontakt auf. Martha schüttelt unwillkürlich den Kopf, weil es gelbe Rosen sind, und die Frau, die nicht weiß, warum sie den Kopf schüttelt, nimmt eine Blume aus dem Bund und reicht sie ihr. Die Rose ist stark und kräftig, und sie hat ihre Blätter bereits ein wenig entfaltet.
Ausgerechnet, denkt Martha. Aber sie murmelt ein schnelles
»Grazie«
und nimmt mit, was sie bis vor wenigen Augenblicken mit größtmöglichem Unglück assoziiert hat. Manchmal gefällt sich das Leben darin, Zufälle zu konstruieren.
Als sie eine Grünfläche mit Bänken und Springbrunnen erreicht, schnappt sie nach Luft. Sie ist zügig gelaufen, um nicht zu spät zu kommen; zwischendrin hat sie immer wieder auf den Stadtplan gesehen und dabei die Namen der Straßen, durch die sie gekommen ist, abgeglichen. Nun bleiben ihr noch fünf Minuten. Das Café, das Michele ihr genannt hat, liegt schräg gegenüber.
Sie lässt sich auf eine Bank fallen und versucht, ihre Atmung zu beruhigen. Die Schweißtröpfchen, die sich auf der Stirn gebildet haben, wischt sie entschieden weg. Ihr ist schwindlig. Das gibt sich gleich wieder, redet sie sich ein und konzentriert sich auf das, was sie sieht: einen kleinen Jungen, der einen großen Hund an der Leine hält.
Labrador, denkt Martha. So einen hatte Lina auch haben wollen, als sie neun Jahre alt wurde, und Hans hatte der Tochter bereits seine Zustimmung gegeben. Warum nicht, wenn die Kleine das möchte? Die Verantwortung, hatte Martha dagegengehalten und sich durchgesetzt wie immer bei solchen Dingen. Es gab Tränen am Geburtstag und Geschenke, die Lina nicht wollte. Sie rannte in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und warf sich heulend aufs Bett. Die Eltern stritten in der Küche, bis die Geburtstagskerzen heruntergebrannt waren und das Wachs auf den Schokoladenkuchen tropfte. Noch am selben Tag fuhr Martha in die Tierhandlung am Ort und kaufte einen Hamster. Der Nager lebte genau zehn Tage, dann übernahm ihn die Katze des Nachbarn.
Der Junge krault den Labrador hinter den Ohren, umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss in das helle Fell. Er wird mit Schwanzwedeln belohnt. Seine Mutter sitzt auf einer Bank gegenüber. Sie ruft ihrem Sohn etwas zu, das Martha nicht versteht, doch es muss etwas Nettes sein, denn der Junge lacht und schüttelt den Kopf.
Marthas Atem hat zu seinem normalen Rhythmus zurückgefunden. Erleichtert steht sie auf und geht langsam Richtung Café. Der Hund nimmt kurz Witterung mit ihrer Jeans auf, dann widmet er seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen, der nun einen kleinen gelben Ball aus seiner Hosentasche holt und damit Richtung Springbrunnen zielt.
Martha überquert die Straße und wirft wie beiläufig einen Blick in die Schaufensterauslagen einiger Luxusboutiquen. Kaschmirpullover, Daunenjacken und Schals liegen bereits da, und die Preisschilder zeigen, dass der Winter teuer wird, während die Temperaturen draußen noch den Ausverkauf des Sommers betreiben.
Sie sieht ihn sofort. Er steht in einer Gruppe von etwa zehn Leuten am Tresen und erzählt gerade etwas. Seine Hände erzählen dabei mit. Eine Frau neben ihm lacht.
Wie am Nachmittag hat er sein Haar locker zusammengebunden.
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