Das unendliche Blau
du?«
»Beobachtungen. Ich sehe mir das Leben draußen an und schaue, was das in mir und mit mir anstellt.«
»Darf ich …«, sie zögert, »… darf ich mal reinlesen?«
»Na ja, ich zeig’s nicht so gern her. Aber du kennst dich immerhin aus mit Texten.«
»Ach nein«, winkt sie ab. »Die journalistische Form hat nicht viel mit der literarischen zu tun.«
»Sehe ich anders. Gute Zeitungsleute denken punktgenau. Das ist pure Konzentration auf das Wesentliche.«
»Nicht alle sind Kandidaten für den Pulitzerpreis.«
Er legt ihr den Arm um die Schultern. Er tut das ganz selbstverständlich. Und sie merkt, wie sich ihr Herz augenblicklich mit Gänsehaut überzieht. Eine Bö, die sich darauf versteht, die Kapillaren zum Zittern zu bringen. Ganz kurz nur, aber lang genug, um zu begreifen, dass dieser alles bestimmende, alles beherrschende Muskel in ihr nur eines will: leben.
Ihre Schulter erwidert den leichten Druck von Micheles Hand. Und er legt nach, als wolle er ihr Anlehnungsbedürfnis austarieren. Ein Spiel um Millimeter. Landnahme auf dem schmalen Grat zwischen Vorsicht und Wagnis.
Sie gehen ein paar Schritte und bleiben vor einer schweren Tür stehen. Michele stemmt sich dagegen.
»Wir haben Glück«, sagt er und schiebt Martha sachte in einen Hörsaal. »Es ist noch offen.«
Ihre Augen tasten sich vor, müssen sich erst an das schummrige Dunkel gewöhnen. Wände und Decke sind holzvertäfelt wie die Stuhlreihen auf der linken Seite, die leicht ansteigen, um den Blick auf das Wesentliche lenken zu können: ein Seziertisch, mit einer Platte aus weißem Porzellan.
»Sie haben den Raum nach dem Krieg rekonstruiert«, erklärt Michele und setzt sich in die oberste Reihe.
Martha nimmt neben ihm Platz. Sie lässt etwas Abstand.
»Normalerweise schieben sich hier reihenweise Reisegruppen durch«, fährt er fort. »Man hat diesen Ort selten ganz für sich allein.«
Es ist warm, trotzdem fröstelt Martha. Michele zieht sie näher zu sich heran. »Weißt du, dass früher Barbiere die Leichen sezierten, nicht Ärzte? Die Mediziner analysierten nur noch, was die Bartstutzer für sie präpariert hatten.«
»Du hast wohl eine Vorliebe fürs Morbide?«
»Nein, ich liebe das Leben. Aber der Tod gehört eben dazu.«
Sie spürt, dass ihr Atem knapp wird. »Francesca hat mir von euren Begräbnissen berichtet, damals in Triest«, bringt sie schließlich hervor. Jedes Wort ist eine Herausforderung, als hätte ihre Luftröhre beschlossen, dicht zu machen, um nichts und niemanden mehr durch zu lassen.
Sein Lachen nimmt den ganzen Saal ein. Ein Lachen wie hundertfach multipliziert. »Sie hat dir davon erzählt?«
Sie nickt.
»Ich hab das geliebt, Martha. Mein Gott, wie ich das geliebt habe. Und Francesca ist eine tolle Schwester gewesen, damals schon. Sie war so ernsthaft bei der Sache, wenn es galt, die Leute zu bestatten. Wir hatten wunderbare Beerdigungen – mit wunderbarem Pathos und wunderbarem Hefezopf …«
»… und du hast wunderbare Grabreden gehalten.« Sie hustet.
Er klopft ihr auf den Rücken. »Hast du dich verschluckt?«
»Nein, nein, schon okay. Weiter. Los, erzähl mir von deinen Grabreden.«
»O ja, darin war ich ganz groß. Ich mochte die Geschichten. Die Geschichten, die hinter den Personen standen. Das Leben hab ich einfach ausgeschmückt, es mit Girlanden versehen. Je bunter, desto besser. Der Fischhändlerin dichtete ich einen Liebhaber an, weil ich ein paar Mal beobachtet hatte, dass sie mit einem Mann im Laden flirtete. Einer, der immer Barben kaufte. So kleine Rotbarben, die man gleich im Dutzend mitnimmt. Einmal steckte er der Fischhändlerin sogar einen Umschlag zu, und ich sah auch, dass er ihre Hand kurz festhielt, als sie ihm das Wechselgeld hineinzählte. Sie hieß Luna wie der Mond, und sie war eine von unseren Lieblingstoten. Francesca und ich dachten diesem Mann natürlich eine tragende Rolle in unserer Geschichte zu.«
Martha lächelt ihn an, und sie versteckt eine Frage in ihrem Lächeln. Das hat sie gut drauf, gelernt in zahllosen Interviews. Mit einem Zucken um die Mundwinkel kann sie Menschen dazu bringen, mehr von sich preiszugeben.
»Ja, wir konstruierten einen Mord aus Eifersucht. Und ich erzählte in meiner Rede etwas von großer Leidenschaft.«
»Was weiß ein kleiner Junge von Leidenschaft?«
»Mehr, als du denkst.«
»Woher?«
»Mama war, ach, was sag ich, sie
ist
eine leidenschaftliche Frau. Lieben, lachen, leiden – auf dieser Klaviatur bringt sie es
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