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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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zur wahren Meisterschaft. Halbe Sachen hasst sie. Wenn Emotionen, dann richtig.«
    »Francesca hat gemeint, dein Vater mag sie sehr.«
    »Er himmelt sie an. Aber er hat’s nie leicht mit ihr gehabt.«
    »Hat sie ihn betrogen?«
    »Ich glaube, ja. Ich erinnere mich, dass es manchmal ziemlich knisterte bei uns zu Hause. Da wurden sie laut, beide. Da knallten die Türen. Da hieß es ›Nicht vor den Kindern!‹ Meine Mutter war wie eine Katze, die gern herumstreunte, um ihre Krallen zu schärfen.«
    »Aber sie kam immer wieder zurück?«
    »O ja. Und dann rollte sie sich ein und schnurrte, und die Familie atmete auf.«
    »Und heute? Ist sie ruhiger geworden?«
    »Nicht wirklich. Sie redet pausenlos davon, dass bald ihre letzte Stunde schlagen wird, aber bevor sie da landet«, er zeigte auf den Seziertisch, »will sie’s immer wieder wissen. Hat Francesca dir erzählt, dass sie unbedingt in Wien unter die Erde will?«
    »Sie sagte so was, ja.«
    »Wahrscheinlich mischt Mama noch nachts den Zentralfriedhof auf.«
    Martha lacht und wundert sich im selben Augenblick darüber, dass sie bei diesem Thema lachen kann. Fast befreit sie dieses Lachen von dem, was ihr die Brust zuschnürt. Zumindest für Momente.
    »Ihr habt ja sogar einen kleinen Friedhof dort in Triest, im Vorgarten, meinte Francesca. Einen, von dem keiner außer euch beiden weiß«, sagt sie schließlich.
    »Mein Gott, Kinderspiele. Aber die schweißen zusammen. Diese Geheimnisse nimmt man mit ins Leben. Ja, Francesca und ich haben nie jemandem ein Sterbenswort davon verraten. Sie muss dich sehr gern haben, wenn sie dir das anvertraut hat.«
    »Wir hatten einen besonderen Tag damals. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich noch nie so schnell so eine Vertrautheit mit jemandem, den ich gar nicht kannte.«
    Er sieht sie an. Seine Augen wollen ihre abholen. Keine Ausweichmanöver, scheinen sie zu sagen.
    Sie willigt ein, reicht ihm einen Blick, hält seinen für Sekunden fest, um dann abrupt nach unten zu schauen, auf den Porzellantisch, dessen weiße glatte Fläche zu ihnen heraufleuchtet.
    »Sie haben hier Menschen auseinandergenommen«, sagt Michele irgendwann leise. »Vor Hunderten von Jahren haben sie hier Leute seziert, Barbiere, die tagsüber Haare schnitten, schnitten Körper auf, um hineinzusehen. Um zu verstehen, wie wir funktionieren.«
    Sie räuspert sich. »Kann man das jemals verstehen?«
     
    Sie nehmen Marthas Frage mit in die Große Aula, wo sich bereits gut hundert Leute eingefunden haben. Es ist warm in dem Saal, und in die Wärme, die den Geruch von alter Bibliothek trägt, mischen sich die spitzen Noten von frischem Parfum und Aftershave. Vorn ist ein Podium aufgebaut, darauf ein Tisch mit Mikrophon, eine Flasche Wasser, ein Glas.
    Martha sieht sich um. Bücher stehen an den Wänden, uralte Bände, dicht an dicht, in Schränken hinter grobmaschigen Gittertüren. Sie geht näher heran, bückt sich, um die Fachrichtungen zu entziffern. Nautik, Physik, Mineralogie, Astrologie, Chemie, Botanik.
    Michele hockt sich neben sie auf den Boden. Er lächelt, und sie merkt bereits jetzt, dass dieses Lächeln mit einem Stoff versehen ist, der süchtig macht. Wie eine Droge, von der man gleich alle Bestände aufkaufen will aus Angst, am nächsten Tag könnte nichts mehr da sein.
    Martha gerät etwas aus dem Gleichgewicht. Sie richtet sich langsam auf, versucht, sich wieder zu finden, sich aufzuspüren. Doch die Frau, die Abwehr zum Prinzip erhoben hat, ist plötzlich nicht mehr zu fassen. Vor was soll sie sich schließlich noch in Acht nehmen? Die Vorbehalte, die sie wie einen Schutzschild vor sich hergetragen hat, damit das Leben nur ja nicht dazwischenkommt und emotionale Schieflagen provoziert – diese Vorbehalte kapitulieren angesichts dessen, was sie vor ein paar Tagen von ihrer Ärztin erfahren hat. Kapitulieren vor der mickrigen Anzahl noch verbleibender Minuten. Martha schwindelt bei dem Gedanken.
    Und dann lächelt sie zurück. Ein Lächeln, das an Strahlen kaum zu überbieten ist. Was hat sie denn noch zu verlieren?
    Sie weiß nicht, auf was sie sich gerade einlässt, aber sie weiß, dass sie nun keine Fragen mehr stellen wird. Es bleibt keine Zeit mehr für irgendwelche Fragen. Noch während sie das denkt, drängen sich bereits Antworten auf. Und staunend registriert sie, dass das Leben sich darin gefällt, Antworten zu geben, wenn man es nur lässt.
     
    Die Lesung wird ein Erfolg. Der Mann auf dem Podium trägt Jeans und weißes Hemd und Schuhe,

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