Das unendliche Blau
die teuer aussehen. Und obwohl Martha nur dem Klang seiner Stimme folgen kann, spürt sie, wie er das Publikum für sich einnimmt. Hin und wieder beugt sich Michele zu ihr und fasst mit ein paar erklärenden Worten zusammen, worum es geht.
Es gibt viel Applaus am Ende und sogar noch eine Zugabe. Danach werden Fragen gestellt. Der Autor antwortet in Stakkato-Sätzen, die wie kleine Salven in den Saal krachen. Seine Hände übernehmen die Interpunktion, setzen Kommas, Ausrufezeichen, Punkte. Sein Blick geht oft zu Michele, und Martha registriert, dass da zwei Männer auf Freundschaftsfrequenz funken.
Hans hatte so etwas nie. Hatte nie einen wirklich guten Freund, lehnte es ab, mit einem anderen Mann die Untiefen des Lebens auszuloten. Da war kein Regulativ, kein blindes Verstehen, kein Kräftemessen. Hans zog es vor, sich in die Arme von Frauen zu legen und sich alle Selbstzweifel wegstreicheln zu lassen. Martha bezeichnete das immer als Schwäche, und er duckte sich. Hielt ihr Unnachgiebigkeit vor, während er Deckung suchte. Und Wärme, die er in fremden Betten fand.
Cercare e trovare,
suchen und finden, sind denn auch die ersten Worte auf Italienisch, die Martha heute lernt. Das Thema des Buches. Sie nimmt den Band, der in großen Stapeln auf einem Tisch am Eingang ausliegt, in die Hand, und die beiden Worte stehen dort wie eine stumme Aufforderung. Als wollten sie die Route festlegen, auf der sie von nun an unterwegs sein würde.
»Möchtest du eine Widmung?« Der Autor steht ganz plötzlich neben ihr, zusammen mit Michele. Er redet sie auf Deutsch an.
»Sie sprechen meine Sprache?«
»Hab ich studiert. Unter anderem. Ich bin übrigens Silvio.« Er streckt ihr die Hand hin, und sie spürt den festen Druck von Fingern, die zu wissen scheinen, was sie wollen.
»Ich heiße Martha.«
»Das sagte mir mein Freund bereits.« Er legt kurz den Arm um Michele. Irgendwie rührt Martha dieser Schulterschluss zwischen den beiden Männern.
Er greift nach dem Buch, das sie in der Hand hält, und holt einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche. Er schreibt zwei Sätze in das Buch und gibt es ihr zurück.
Sie blättert. »Sie haben etwas auf Italienisch geschrieben. Ich spreche noch nicht …«
»Zwei Dinge«, unterbricht er sie. »Erstens: Wir sollten uns nicht mit dem Sie aufhalten …«
Sie errötet, ganz leicht nur, aber so, dass sie es merkt.
»… und zweitens. Du siehst so aus, als würdest du in spätestens zwei Wochen ein bisschen italienischen Small Talk lässig aus dem Ärmel schütteln.«
»Wieso?« Sie spielt auf Zeit mit der Frage, will wieder Land gewinnen.
»In der Schule gab es immer die Mädchen, die ihre Hausaufgaben brav am Nachmittag erledigten«, fährt er fort. »Sie hatten meist eine schöne Schrift und schrieben nie über den Rand, und natürlich machten sie wenig Fehler. Und dann gab es die, die am nächsten Morgen im Bus schnell ein paar vermeintliche Lösungen in ihre Hefte kritzelten. Die pokerten hoch, und nicht selten verloren sie das Spiel.«
»Was wollen Sie … was willst du damit sagen?«
»Du gehörst zur ersten Kategorie.«
Wieder diese Röte, die ihr über die Wangen kriecht und dort nun sichtbare Spuren auslegt.
Er wendet sich zu Michele und sagt etwas auf Italienisch. Der Freund antwortet und legt wie nebenbei seinen Arm um Marthas Schulter.
»Ich freu mich, dass du heute zu meiner Lesung gekommen bist«, wendet sich Silvio wieder ihr zu. »Es passiert einem nicht oft, dass Leute zuhören und nicht verstehen, was man zu sagen hat.«
»Michele hat ein bisschen übersetzt.«
»Wie lange bleibst du in Italien?« Er hat auf Plauderton umgeschaltet.
»Einige Zeit.«
»Du musst nicht irgendwann zurück nach Deutschland?«
»Müssen?« Sie bewegt das Wort ein wenig im Mund wie ein Bonbon, das zu groß ist und ein paar scharfe Kanten hat. »Nein, ich muss nicht. Ich muss eigentlich gar nichts mehr.«
Jetzt sieht er sie direkt an, sucht die Gerade, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Augenpaaren. »Das klingt nun wiederum gar nicht mehr nach Musterschülerin.«
»Irgendwann legt man seine Rollen ab.«
»Und seine Masken. Meist gibt es dafür einen Grund, aber ich war wohl schon indiskret genug.« Er grinst. »Trotzdem, ich bin mir ziemlich sicher, dass du schnell unsere Sprache lernst.«
»Das hoffe ich. Ich mag den Klang.«
»Ja, ja, die Melodie. Die mögen alle Ausländer.
L’opera grande.
« Er sieht zu Michele. »Was habt ihr zwei heute noch vor?« Er spricht
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