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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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anderen Tisch hat aufstehen lassen. Der sie dazu gebracht hat, ihre Tasche zu packen, sich in ihr Auto zu setzen und loszufahren.
    »Wie meinst du das?«, will sie fragen, doch sie weiß, wie er das meint. Deshalb schweigt sie. Ein Schweigen, das sich von irgendwoher ein kleines Nicken borgt.
    Seine Hand auf ihrem Knie verstärkt kurz den Druck, dann rückt er mit dem Stuhl ein wenig nach hinten.
    »Gehen wir?«
    Sie taumelt ein bisschen und schreibt das den vier Gläsern Rotwein zu, die sie getrunken hat. Weniger als die anderen am Tisch, aber mehr, als sie gewohnt ist.
    Der Wirt mit der roten Brille breitet die Arme aus und kommt auf sie zu. Martha drückt er Küsse auf beide Wangen,
baci,
während er ihr die rosa Rose reicht. Michele schüttelt er lange die Hand. Dabei redet er ohne Unterlass, ein wahres Wortgewitter, in dem öfter von
donne
die Rede ist.
    »Er hat was von Frauen gesagt, oder?«, fragt sie, als sie einige Minuten später in Micheles Hinterhof stehen.
    Er lacht. »Dein Italienischunterricht fängt erst morgen an. Aber du hörst jetzt schon die wesentlichen Dinge.«
    »Ging’s um mich?«
    »Er hat von Frauen allgemein gesprochen, von denen, mit denen ich schon bei ihm war.«
    Sie zieht die Augenbrauen hoch.
    »Und er hat gesagt, dass du hübsch bist. Wie Silvio vorhin übrigens auch.«
    »Ihr habt über mich geredet, Silvio und du?«
    »Was denkst du? Wir sind Männer. Und wir sind Freunde.«
    »Ich …« Sie sieht ihm zu, wie er aus seiner Hosentasche einen Schlüssel hervorzieht. »… ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag.«
    Er steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht einmal um, stößt die Tür auf, tritt vor ihr in den Hausflur, um das Licht anzuschalten.
    »Da wärst du nicht die Erste«, erwidert er.
    »Ach.« Sie merkt im selben Moment, dass das schärfer herausgekommen ist, als sie beabsichtigt hat.
    Er schüttelt den Kopf, aber er lächelt nicht, und am liebsten hätte sie die drei Buchstaben wieder zurückgezogen. Aber sie hängen nun mal zwischen ihnen, in diesem Flur, in dem noch immer der Stuhl steht mit der dunkelblauen Strickjacke über der Lehne und in dem sich noch immer die Zeitungen stapeln mit den zwei leeren Weinflaschen daneben.
    Alles ist genau so wie heute Nachmittag, und doch ist es anders. Ein klein wenig nur haben sich die Koordinaten verschoben. Gespräche, Blicke, Berührungen. Nicht mehr als ein paar Stunden, aber diese Stunden haben wie nebenbei ein Zeitfenster aufgestoßen, haben die Zukunft ins Visier genommen. Eine Zukunft, von der Martha weiß, dass sie begrenzt ist – und in der sie sich jeden Anflug von Kleinmut fortan versagen will. Kein »Ach« mehr, keine Enge, keine Verzagtheit.
    Sie hat ihre Welt lang genug für geordnet gehalten, für übersichtlich, und dabei nicht wahrhaben wollen, dass es genau diese Ordnung und Übersichtlichkeit gewesen sind, die Wände hochgezogen haben. Als Kind hatte sie oft Schuhschachteln hergenommen, um ein Haus für ihre Puppen zu bauen. Sie hatte ein Fenster hineingeschnitten, manchmal sogar eine Tür. Aber es war eine Schachtel geblieben. Als Martha größer wurde und die Puppen auf dem Speicher landeten und ihre Mutter die Schuhschachteln zum Altpapier gab, setzte sie das Spiel fort. Ohne zu merken, dass daraus Ernst wurde. Bitterer Ernst. Sie richtete sich ein in ihrer Schachtel. Die Wände gaben ihr eine Illusion von Sicherheit. Ihre Ängste vor der Welt draußen nannte sie Verantwortung und Disziplin.
    Hans wollte sie herausholen, wollte ihr mit seinen verrückten Vorstellungen von Leben und Liebe und Freiheit ein Ticket in die Zukunft lösen. Und sie? Ließ sich ein, genoss für Momente den Flug ohne Fallschirm und bekam im selben Augenblick Panik vor dem, was möglich schien. Setzte alles dran, damit er in ihre Schachtel kam. In diese überschaubare Welt, wo die Möglichkeiten nicht mehr als das Minimum erreichten, manchmal sogar weniger. Sie saßen in ihrem Reihenhaus an der Ostsee, und die Tochter machte in dem koniferenbegrenzten Quadrat ihre ersten Schritte. Weder Martha noch Hans mochten dieses Haus, doch während sie sich einredete, das Leben sei nun mal so, und Lina zeigte, wie man aus Schuhschachteln Puppenhäuser baut, trieb ihn die Enttäuschung in die Arme anderer Frauen.
    Michele nimmt sein Kopfschütteln mit in den großen Raum. An die Stelle der Sonne ist jetzt ein halbherziger Mond getreten, der sein fahles Licht durch die großen Scheiben schickt. Draußen bewegen die Ginkgobäume nachlässig

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