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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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aufopferungsvolle Weise gedankt, immer um Bestnoten bemüht.
     
    Ja, Silvios Bemerkung gestern ist eine Punktlandung gewesen. Präzise hat er dieses »Musterschülerin« hineingesetzt in ihren Lebensbaukasten und damit ein kleines Beben ausgelöst, die Steinchen durcheinandergewürfelt.
    Jetzt schüttelt sie den Kopf. Es liegt Nachsicht darin, Nachsicht mit sich selbst. Dann liest sie der Grammatiklehrerin den italienischen Satz vor, mit dem sie an der Reihe ist. Sie macht alles richtig, und sie wird gelobt für ihre Aussprache.
    Martha lehnt sich zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und atmet tief ein, um die Luft gleich wieder herauszulassen. Und wieder laufen ihre Gedanken davon. Diesmal sammeln sie die letzte Nacht ein, damit nur ja nichts verlorengeht. Ginkgobäume, halber Mond, Kerzenlicht, Micheles Körper, seine Haut, sein Geruch, seine Stimme, die sie in den Schlaf begleitete.
    Am Morgen wurde sie in seinen Armen wach, und im ersten Moment meinte sie zu träumen. Sein Kuss auf ihre Stirn holte sie in die Gegenwart; sanft tat er das, und sie glitt wie auf watteweichen Wolken in diesen Tag und hätte ihr Leben am liebsten auf Zeitlupe gestellt. Nichts wollte sie sich entgehen lassen. Keine Sekunde des Glücks, das sie jetzt, in dieser Sekunde empfand, an das verschenken, was sich Zukunft nennt.
    Später machte Michele ihnen Milchkaffee. Es gab trockenes Brot dazu, und er entschuldigte sich, dass er keine Butter, sondern nur Honig im Haus hatte. Er sei eben nicht auf Übernachtungsbesuch von Frauen eingestellt. Sie dachte an den Geruch von Parfum in den Kissen seines Betts und erklärte, sie habe sowieso keinen Hunger. Während sie Kaffee tranken, redeten sie darüber, dass Frischverliebte ihren inneren Sender sofort auf das ausrichten, was kommt, dass sie beginnen, Pläne zu machen, und mit diesen Plänen die Gegenwart in der Bedeutungslosigkeit versenken.
    »Wir begehen diesen Fehler nicht«, sagte er.
    »Einverstanden«, entgegnete sie leise und schob ihre Tasse auf dem Tisch langsam hin und her. Sie kostete es aus, das karge Frühstück. Nach Jahren saß sie wieder morgens bei einem Mann. Sie hatte vergessen, wie sehr Blicke wärmen können. Als würden unzählige Heizdrähte in ihrem Inneren auf einmal in Betrieb gesetzt und jeden Winkel des Körpers zum Glühen bringen.
    »Na ja«, erwiderte er lachend. »Auch das ist typisch für zwei Menschen, die sich gerade erst in die Arme gefallen sind.«
    »Du meinst, dass sie glauben, alles besser zu machen?«
    »Genau. Was die Liebe betrifft …«
    »Hey«, unterbrach sie ihn, »ein ziemlich großes Wort nach der ersten Nacht.«
    Er schlug die Augen nieder und biss sich auf die Unterlippe. Eine Kleine-Jungen-Geste, die Unschuld vorgab. Dann sah er hoch. »Du spürst es doch auch, oder?«
    Ihr Atem setzte kurz aus, vielleicht war es auch ihr Herz. Sie nickte in den Stillstand hinein.
    »Als du gestern hier durch diese Tür getreten bist, wusste ich, dass da etwas seinen Anfang nahm.«
    »Da wusstest du mehr als ich«, entgegnete sie.
    »Martha?« Er ließ sich Zeit, ihren Namen auszusprechen, setzte ganz vorsichtig das Fragezeichen am Ende der letzten Silbe. »Wovor hast du Angst?«
    Sie sah auf ihre Hände, auf denen sich in den letzten Jahren ein paar Altersflecken gebildet haben. »Zu verlieren«, sagte sie schließlich.
    Er stand auf, ging um den Tisch herum, stellte sich vor ihren Stuhl und zog sie zu sich hoch. Seinen Kopf legte er in ihrer Schulterbeuge ab. Der Kopf passte dort gut hinein, als hätte dieser Ort nur darauf gewartet, ihm ein Nest zu sein.
    Sie fühlte seinen warmen Atem an ihrem Hals. Und sie fühlte noch etwas – Tränen, die ihr plötzlich über die Wangen liefen.
    »Denk nicht ans Verlieren«, flüsterte er. »Wir haben doch gerade erst gewonnen.«
    Sie zog die Nase hoch, geräuschvoller, als sie beabsichtigt hatte.
    Er sah auf. Seine Küsse plazierte er auf ihren nassen Wangen. Kleine Küsse, die erst Schluss machten, nachdem sie das letzte Salz von ihrer Haut aufgenommen hatten.
    »Keine Angst, Martha«, sagte er. »Wir leben einfach in diesem Augenblick. Genießen, kosten aus, trinken. Es ist mehr als genug da. Verschwenden wir unsere Gedanken nicht daran, was morgen sein wird.«
    Sie gab ihm einen Kuss zurück, auf die Nasenspitze. »Ja, lass uns genau das tun, Michele. Carpe diem.«
    »Einer meiner Lieblingssätze.«
    Jetzt lächelte sie. »Hab ich mir fast gedacht.«
    Kurz darauf nahm sie ihre Tasche und ging.
    »Wir

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