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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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Sehnsucht war schon da, als du die Tür hinter dir zumachtest.«
    Sie hält ihn fest, ganz fest, und lässt im selben Moment los, was in ihr fast reflexhaft auf die Bremse treten will. »Es tut so gut, dich zu sehen«, stammelt sie.
    Als sie sich küssen, rückt alles um sie herum weit weg. Selbst der Verkehr wird zu einem fernen Rauschen. Sie stehen vor dem Schultor, selbstvergessen wie zwei Teenager, die gerade die Liebe entdeckt haben. Minutenlang stehen sie so da, finden in einer Mischung aus Staunen und Erleichterung wieder, wovon sie bereits letzte Nacht nicht genug bekommen konnten.
    Es ist Martha, die sich irgendwann lachend frei macht. »Ich hatte vor, einkaufen zu gehen«, sagt sie. »Ich brauche Brot und Butter und Obst und Gemüse und Honig und Käse und Eier und … ach, ich brauche einfach alles. Ich will meinen Kühlschrank füllen. Ich will kochen.«
    Er nimmt sie an die Hand. »Ich weiß, wo die richtigen Läden sind. Und außerdem ist ein Dolmetscher beim Einkaufen von Vorteil, was meinst du?«
    »Klar, so weit reicht mein Italienisch noch nicht.«
    »Ich mag es, wenn eine Frau abhängig von mir ist.«
    Sie boxt ihn in die Seite. »Das geht ja früh los, mein Lieber.«
    »
Caro mio,
heißt das.«
    »Was?«
    »Mein Lieber.«
    »Der Unterricht ist vorbei.«
    »Er fängt erst jetzt richtig an.«
    Zwei Straßenecken weiter sind sie bei den Ständen und Läden, die Martha bereits am Vortag gesehen hat. Ist es wirklich erst gestern gewesen, als sie sich von ihrem Hotel in die Schule aufmachte, um Francesca zu treffen? Ein paar Stunden, in denen ihr Leben mal eben Kopfstand gemacht hat. Nichts scheint mehr Gültigkeit zu haben; binnen eines einzigen Tages hat sie einen Großteil ihrer Prinzipien mit einem Achselzucken entwertet. Als sei ihr plötzlich klargeworden, dass dieses Ticket, das sie irgendwann erworben hat, nichts weiter ist als ein verdammtes Himmelfahrtskommando.
    Nun schlendert sie mit Michele von Auslage zu Auslage, lässt sich einpacken, worauf sie Appetit hat. Bei allem nennt er ihr das italienische Wort, und irgendwann schwirrt ihr der Kopf von den vielen neuen Vokabeln. Verkäufer und Verkäuferinnen reden auf sie ein, gestikulieren, stellen ihr Fragen, und sie zuckt immer nur mit den Schultern, während Michele übersetzt: Woher sie komme? Wie lange sie schon in Bologna sei? Ob sie den Peccorino oder Prosciutto oder die hausgemachten Tortellini schon probiert habe? Sie nickt, schüttelt den Kopf, nimmt die Hände zu Hilfe. Sie bekommt hier ein Bund Basilikum, dort eine Feige geschenkt, und sie verschenkt zum Dank ihr am Vormittag gelerntes
»Grazie mille«.
Sie verschenkt es mit einem Lächeln, und sie ist verschwenderisch damit, weil sie ihren Dank am liebsten tausendfach in die Welt entlassen würde.
    »Magst du noch ein Eis, so eins auf die Schnelle?«, fragt Michele, als sie mit Tüten beladen den Heimweg antreten.
    »O ja.« Sie strahlt ihn an. Sie kann sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal Eis gegessen hat.
    Er bleibt stehen und sieht sie an. »Du bist eine sehr schöne Frau, Martha.«
    Dein Verdienst, Michele, denkt sie. »Danke«, sagt sie leise.
    »Ich zeig dir jetzt die beste Gelateria der Stadt«, erklärt er, nimmt die Tüten in die rechte Hand und legt den linken Arm um ihre Schulter.
    Der Laden wirkt unspektakulär. Ein kleines Geschäft unter Arkaden, davor zwei grüne Bänke, auf denen ein paar Leute sitzen und mit bunten Plastikspateln Eis aus Waffelbechern löffeln. Ein Mädchen mit dunklen, kurz geschnittenen Haaren schleckt voller Hingabe an einem viel zu großen Schokoladeneis. Um ihren Mund hat die Schokolade Spuren hinterlassen, und das Eis tropft ihr über die Hand in den Ärmel ihres hellblauen Kleides. Mutter und Vater sehen der Kleinen zu. Keiner wischt hektisch an der Tochter herum oder mahnt sie aufzupassen.
    »La Sorbetteria Castiglione«
steht über einem Schaufenster, in dem zahllose Zeitungsartikel und Urkunden hängen. Drinnen ist es kühl. An der violett gestrichenen Wand über einer langen, mit weißem Leder bezogenen Bank weitere Diplome. Martha liest die Namen der Eissorten, die ausgezeichnet wurden:
Emma, Karin, Edoardo, Ludovico …
    »Ich möchte Emma«, sagt sie.
    »Du weißt doch noch gar nicht, was drin ist«, erwidert Michele.
    »Ich mag den Namen. Als meine Tochter geboren wurde, wollte ich sie Emma nennen. Das hat so etwas Rundes, Nettes, Pragmatisches. Mein Mann war dagegen.«
    »Hast du immer getan, was dein Mann wollte?«
    Sie

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