Das unendliche Blau
sehen uns«, gab er ihr mit auf den Weg.
Sie trug seinen Satz hinaus in den Hinterhof, wo jetzt auf dem Kissen in dem Karton wirklich eine Katze lag und Martha träge zublinzelte. Sie trug seinen Satz weiter in die morgendlichen Straßen. Die Stadt gefiel sich darin, Lärm zu machen, und Martha genoss diesen Mehrklang aus Stimmen, knatternden Motorrädern, durchstartenden Autos, anfahrenden Bussen. Dazwischen setzten Ambulanzwagen Spitzmarken. In jedem Land klingen die anders, dachte Martha, während sie Richtung Schule lief. Diese Sirenen, die einen jaulend und heulend daran erinnern, dass es manchmal ganz schnell gehen muss im Leben.
In der Pause kommt Robert an ihren Tisch, der Mann im roten Pullover, und sie freut sich darüber, weil sie eine gewisse Nähe zu ihm spürt, fast so etwas wie Seelenverwandtschaft.
Er sei mit seiner Frau hier, erzählt er Martha. »Sie ist ein ziemliches Sprachgenie. Sie kann Norwegisch und Japanisch, und ihr Italienisch ist auch schon ganz passabel. Ich dagegen …«, er zeigt auf die fotokopierten Grammatikblätter, die neben Marthas Wörterbuch liegen, »… steh auf Kriegsfuß mit dem Zeug.«
»Wie lange bleiben Sie hier in der Schule?«
»Ach, so genau wissen wir das noch nicht. Ein paar Wochen. Danach fahren wir zu Verwandten ins Friaul.«
»Sie sind also länger in Italien?«
»Ja, ein gutes halbes Jahr.«
»Arbeiten Sie nicht mehr?«
»Doch, doch. Ich zumindest. Ich hatte mal eine Professur an der Uni, jetzt bin ich selbständig.«
»Als was?«
»Ich helfe Paaren, die Probleme haben.«
»Psychologe?«
»Ja. An der Uni hab ich wissenschaftlich gearbeitet. Jetzt im Alter sammle ich mehr praktische Erfahrungen. Genug theoretisiert.«
»Erzählen Sie mir bei Gelegenheit mehr davon, wenn Sie mögen?«
»Gern. Doch im Prinzip ist es immer dasselbe. Seitdem es Männer und Frauen gibt, glauben sie, der jeweils andere sei für ihr Glück zuständig. Das ist die Falle, in der so viele landen. Denn niemand, wirklich niemand kriegt diesen Job lebenslang hin.«
»Klingt ziemlich desillusionierend.«
»O nein, ist es gar nicht.«
»Es gibt also Hoffnung?«
»Klar. Sobald die Leute begreifen, dass sie sich erst mal in sich selbst verlieben müssen, bevor sie einen anderen Menschen lieben können, läuft’s besser. Es geht immer darum, bei sich zu sein, unabhängig. Nur freie Menschen können wirklich lieben. Alles andere ist emotionaler Vampirismus.«
»Ich merke, Sie kennen sich wirklich aus.«
»Ist mein Job. Aber entschuldigen Sie, ich hab so einen Hang zum Dozieren. Meine Frau sagt auch immer, ich sei unverbesserlich.«
»Ach, das stört mich überhaupt nicht. Ich höre ganz gern zu.«
»Was machen Sie? Ich meine beruflich.«
»Ich bin Journalistin, aber derzeit, nun ja … derzeit pausiere ich.«
»Wie ich. Es tut gut, mal einen Schnitt zu machen, rauszugehen, den Horizont zu weiten …«
»… und eine Sprache zu lernen.«
»Erinnern Sie mich nicht daran. Vermute, das hier wird noch ’ne ziemliche Plackerei für mich. Ich kann wunderbar reden, aber nur in meiner Sprache. Gott sei Dank komme ich damit in der Welt ganz gut zurecht.« Er grinst. »Wie lange bleiben Sie in Bologna?«
»Weiß noch nicht. Mal sehen.«
»Sehr gut. Die meisten Menschen sind heutzutage viel zu verplant. Dabei hat es durchaus was, die Dinge hin und wieder einfach auf sich zukommen zu lassen und zu schauen, was passiert.«
Sie denkt an Michele, und sie nickt. Sein »Wir sehen uns« klingt noch immer in ihr nach, und sie spürt, wie dieser Satz bereits jetzt, zwei Stunden später, Sehnsucht freisetzt. Ja, sie will schauen, was passiert, aber sie will auch, dass es möglichst bald passiert.
»Hätten Sie Lust, mit mir und meiner Frau mal einen Kaffee zu trinken? Oder einen Wein?«, fragt Robert.
»Sehr gern. Ihre Vorträge interessieren mich.« Sie lacht.
Er lacht auch, und sie schreiben sich gegenseitig ihre Telefonnummern in ihre Schulhefte, die noch neu aussehen.
Als sie nach Unterrichtsschluss um kurz nach eins die große Treppe in dem alten Palazzo herunterläuft, nimmt sie erste Vokabeln und Redewendungen und Hausaufgaben mit. Die Telefonnummer eines sympathischen Mannes. Die Neugier auf seine Frau. Und eine ihr völlig fremde Leichtigkeit, die Lust auf das Leben macht. Sie springt die drei letzten Stufen hinunter und stemmt sich unten gegen die schwere Holztür.
»Hallo.«
Sie landet geradewegs in Micheles Armen.
»Ich hab’s nicht ausgehalten, Martha. Die
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