Das unendliche Blau
wollen, doch stattdessen war sie schwanger geworden, und je größer ihr Bauch wurde, desto kleiner wurden die Träume von der Karriere. Das Geschrei des Babys ließ sie vollends verstummen. Sie litt und ließ keine Gelegenheit aus, Mann und Tochter ihren Vorwurf spüren zu lassen. Wie einen Haufen Steine packte sie den beiden ihre verpassten Chancen in den Rucksack, und das Mädchen ging unter diesem Gewicht in die Knie.
Marthas Vater hatte es irgendwann aufgegeben, sich um seine Frau zu bemühen. Er verließ morgens früh das Haus und kam abends immer später heim. Dann gab es böse Worte und aufgewärmte Bratkartoffeln, die nach altem Fett schmeckten. Die Mutter hatte keinen Ehrgeiz, eine gute Köchin zu sein, im Gegenteil, sie genoss es fast, dem Gemüse, dem Fleisch, dem Fisch so etwas wie liebevolle Zuwendung vorzuenthalten. Sie tat, was getan werden musste, und sie tat es mit eisiger Verachtung. Nur manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, begann sie zu singen. In diesen Momenten entspannte sich nicht nur ihr Gesicht, sondern ihr ganzer Körper, und für Minuten sah sie glücklich aus. Und Martha sah das Glück durch einen kleinen Spalt in der Küchentür.
Den Rest der Zeit stritten die Eltern, ganze Nächte stritten sie, während die Tochter im Bett lag und sich die Ohren zuhielt. An Sonntagen holte der Vater das Mädchen manchmal nach dem Frühstück aus dem Kinderzimmer. Sie fuhren zu zweit in seinem Auto an die Ostsee. Sie gingen spazieren oder baden, und Martha durfte reden, so viel sie wollte, und Fragen stellen. Sie hatte einen unendlichen Vorrat an Fragen, und er wurde nicht müde zu antworten und ihr die Welt zu erklären. Warum der Wind so wütend werden kann. Wie Tausendfüßler beim Laufen nicht den Überblick verlieren. Weshalb Schmetterlinge manchmal minutenlang in der offenen Hand sitzen und sich ein anderes Mal gar nicht erst niederlassen. Martha durfte sich beim Vater ankuscheln. Diese Sonntage rochen nach Tabak und irischem Rasierwasser, und sie waren die Sternstunden ihrer Kindheit.
Als die Mutter einen Knoten in ihrer Brust fand, war die Tochter Ende zwanzig. Es ging schnell. Der Krebs machte binnen Monaten kurzen Prozess. Der Vater trauerte einige Monate, dann nahm er sein Leben wieder auf. Ein Leben ohne seine Frau. Wenn die Tochter ihn besuchte, spürte sie eine Leichtigkeit bei ihm, die er in den Jahren seiner Ehe nur selten gezeigt hatte. Außer an den unbeschwerten Sonntagen, den Ostseesonntagen zu zweit. Damals fragte sie sich, warum zwei Menschen zusammenbleiben, die zusammen nicht glücklich sein können. Musste erst der Tod kommen, um klare Verhältnisse zu schaffen? Damals, da war sie noch glücklich mit Hans, doch sie legte dieses Glück bereits an die Kette. Erst später begriff sie, dass es mit der Liebe so ist wie mit einem Schmetterling in der offenen Hand. Er fliegt davon, wenn ihm danach ist. Will man ihn festhalten, zerdrückt man ihm die Flügel, und vorbei ist es mit der Kunst zu fliegen.
Die Demenz ihres Vaters begann, während Lina sich auf das Abitur vorbereitete. Erst verlegte er Dinge, dann Gedanken. Zwischendurch hatte er hellsichtige Momente, in denen er Martha bat, für ihn zu sorgen. Er ahnte, was mit ihm geschah, daher setzte er mit der ihm verbleibenden Kraft alles daran, seine Sachen zu regeln, wie er das nannte. Martha sah ihm mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Angst zu. Angst, ihn für immer zu verlieren. Kurz bevor sie ihn ins Heim brachte, verlebten sie noch einmal einen Sonntag. Sie fuhren zusammen ans Meer wie früher. Sie spürten, was sie verband. Und sie wussten, dass sie die Leinen loslassen mussten. Wie die Segelboote, die sich da draußen auf dem Wasser dem Wind aussetzten. Der Vater sagte dem Leben zu Lebzeiten adieu. Er machte sich davon mit leichtem Gepäck und hinterließ der Tochter die Erinnerung. Es war einer seiner letzten klaren Augenblicke.
Als Martha ihn vier Wochen später besuchte, begrüßte er sie lächelnd und fragte, wer sie sei. Sie saß bei ihm in seinem neuen, praktisch eingerichteten Ein-Zimmer-Appartement, doch er befand sich bereits an einem anderen Ort. Er aß die Himbeeren, die sie ihm mitgebracht hatte, und bedankte sich überschwenglich. Himbeeren waren immer seine Lieblingsfrüchte gewesen.
Klaglos nahm sie fortan die Aufgabe an, sich um ihren Vater zu kümmern. Er war das geworden, was man einen Pflegefall nennt. Sie selbst hat dieses Wort niemals benutzt. Sie hat dem alten Mann auf leise,
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