Das unendliche Blau
Stadtansichten. Die Tische sind in Hufeisenform aufgestellt.
Zwölf Leute finden sich nach und nach ein, legen Taschen, Hefte, Stifte ab. Martha hört Schwedisch, Englisch, Französisch. Es sind junge Frauen und Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren, schätzt sie. Sie ist dieser Klasse nach einem Einstufungstest zugeteilt worden. Anfängerkurs. Ohne Grundkenntnisse.
Ein Mädchen setzt sich neben sie. Sie ist blass und blond und trägt ein paar Sommersprossen im Gesicht. »Hey«, sagt sie und stellt sich als Lina vor. Was für ein Zufall, denkt Martha, streckt ihr die Hand entgegen und nennt ihren eigenen Namen.
Lina plappert sofort los. Sie kommt aus Stockholm, hat sich für vier Monate in Bologna an der Uni eingeschrieben. Sie absolviert ein Auslandssemester. Wirtschaftswissenschaften.
Ein Junge mischt sich ein. Howard aus London. Er will wissen, wo Martha wohnt. Derzeit lebt er bei einer alten Frau zur Untermiete, aber er sucht etwas anderes. Was Günstiges, möglichst zentral.
Im Nu ist Martha im Gespräch. Obwohl sie sich noch fremd fühlt. Fremd und etwas unsicher mit ihren fünfzig Jahren, zwischen all den jungen Menschen, die gerade mal Anlauf nehmen im Leben. In diesem Klassenzimmer, das sie an ihre Schulzeit vor fast vierzig Jahren erinnert. Kein Computer, kein Flipchart, kein DVD -Player. Selbst der Geruch ist gestrig. Es ist der Geruch nach Kreide und feuchtem Schwamm.
Irgendwann betritt ein älterer Mann den Raum. Er trägt Jeans, einen roten Pulli und Turnschuhe. Die grauen Haare sind noch voll und hängen ihm ein wenig wirr in die Stirn. Martha schätzt ihn auf Mitte, Ende sechzig, und kurz streift sie so etwas wie Erleichterung.
Ihm scheint es ähnlich zu gehen. Er zwinkert Martha zu. Es ist nett, das Zwinkern, und sie antwortet mit einem Lächeln.
Für ein Gespräch finden sie keine Zeit mehr, denn nun kommt die Lehrerin. Eine Kollegin von Francesca, zuständig für Grammatik. Sie heißt Ornella, ist klein und hat einen großen Mund, der strahlend weiße Zähne zeigt, wenn sie lacht. Sie lacht gern und hält sich nicht mit englischer Vorrede auf. Stattdessen lässt sie einen italienischen Wortschwall auf die Schüler niedergehen wie einen warmen, heftigen Sommerregen. Ihre gute Laune wirkt ansteckend, und es dauert keine fünf Minuten, bis auch der Letzte im Raum seine anfängliche Schüchternheit abgelegt hat.
Es folgen Vorstellungsrunden, erste Vokabeln und kleine Übungen, in denen einfache Sätze um ein fehlendes Wort ergänzt werden müssen. Alle werden der Reihe nach aufgerufen, und Martha ertappt sich dabei, dass sie wie früher schnell auszählt, mit welcher Aufgabe sie dran sein wird, um nicht ins Stottern zu geraten. Vor ewigen Zeiten verinnerlichte Mechanismen, die wie auf Knopfdruck reaktiviert werden.
Sie muss lachen, und sie sieht, dass der ältere Mann ihr gegenüber ebenfalls lacht. Er kommt aus New Hampshire, erzählt er, heißt Robert, und er tut sich noch schwer mit der italienischen Aussprache. Martha ist ein bisschen stolz, dass sie das besser hinbekommt.
Und während sie sich ihre Worte zurechtlegt, denkt sie an das, was dieser Silvio ihr gestern Abend über Musterschülerinnen erzählt hat. Sie weiß, dass er recht hat. Schon immer hat sie alles perfekt machen wollen, hat sich selbst den kleinsten Fehler vorgeworfen, hat nicht aufgegeben, sondern über ihren Büchern und Heften gesessen, während die anderen Kinder draußen die Welt entdeckten und sich Beulen holten.
Sie hat stets die Lorbeeren eingesammelt, und es sind nicht wenige gewesen, die sie aus der Schule heimtrug und der Mutter apportierte. Der Frau, der sie zeit ihres Lebens meinte beweisen zu müssen, dass sie eine Daseinsberechtigung hatte. Die keinen Hehl daraus machte, dass sie eigentlich nie Kinder hatte bekommen wollen. Die der Tochter den Unfall, wie sie Marthas Geburt nannte, ständig vorhielt. Das Mädchen versuchte, die entstandenen Unfallschäden wieder wettzumachen, indem sie brav war und ordentlich und leise. Nie vergaß sie, die Schuhe auszuziehen, bevor sie die Wohnung der Eltern betrat; bereits im Treppenhaus tat sie das, um sich auf Strumpfsocken hineinzuschleichen. Die Mutter hatte oft Migräne, und wenn es ein Geräusch gab, das Marthas Kindheit begleitete, dann waren es Seufzer. Pflichtschuldig parierte die Tochter diese Seufzer mit Wohlverhalten, doch sosehr sie sich auch anstrengte, es gab allenfalls müde Duldung, meist gab es jedoch Klagen. Ihre Mutter hatte Gesang studieren
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