Das unendliche Blau
ein, und während Martha darauf wartete, aufgerufen zu werden, begann sie sogar an vertauschte Krankenakten zu glauben. So etwas kam schließlich vor; man las immer wieder davon, selbst Neugeborene auf Entbindungsstationen wurden vertauscht, weshalb denn nicht auch ihre Akte?
Der Arzt war Mitte vierzig, groß, schlank, gutaussehend. Er setzte zusammen mit einer schwarzen Hornbrille eine ernste Miene auf, und Marthas Hoffnung atomisierte sich in genau diesem Moment. Sein Aftershave war süß, und das, was er ihr sagte, war bitter. Eigentlich war es nicht viel anderes als das, was sie vor Wochen von ihrer Onkologin gehört hatte; nur klang es heute, hier in dieser Stadt, die ihr bislang als ein einziger, nicht enden wollender Traum erschienen war, wie ein Wecker, der einen mit schrillem Läuten zur Unzeit aus dem Schlaf reißt.
Ob sie mehr Schmerzen habe, wollte er wissen – und sie konnte nur nicken, weil da plötzlich ein Kloß in ihrem Hals steckte, der die Sätze nicht mehr hinausließ.
Andere Symptome?
Sie sah auf ihre Finger, die jetzt taten, als sei nie etwas geschehen, und wieder nickte sie.
Atemnot?
Es ließ sich nicht leugnen. Nichts ließ sich leugnen. Er richtete seine Fragen genau dorthin, wo sie in den letzten Wochen ihre Sinne weggeschaltet hatte. Er leuchtete aus, was sie ins Dunkel gepackt hatte wie überflüssiges Zeug, das man in den Keller räumt, damit es einem nicht mehr im Weg steht.
Plötzlich waren sie zurück, die hässlichen Vokabeln. Sie hatte Italienisch gelernt inzwischen und Worte wie Metastasen und Leberwerte und Leukozyten nicht mehr in den Mund genommen. Jetzt standen sie auf einmal wieder im Raum, und sie waren lauter als die leise Melodie der Sprache, die sie lieben gelernt hatte.
Man müsste eine Computertomographie machen, erklärte der Arzt, am besten ein großes PET - CT , damit man genau sehen könne, wie weit der Befall fortgeschritten sei. Er werde einen Termin für Martha ausmachen am hiesigen Krankenhaus, und danach werde man das weitere Vorgehen besprechen.
»Meine Kollegin in Deutschland hat mir gesagt, Sie lehnen jegliche Therapie ab?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ja«, entgegnete sie. »Ich möchte keine Chemo. Ich möchte auch sonst nichts. Keine Bestrahlung, keine OP mehr. Nichts.«
»Verstehe.«
»Tun Sie das wirklich?«
Er sah sie erstaunt an, und zum ersten Mal in den zehn Minuten, die sie diesem Mann nun gegenübersaß, zeigte er so etwas wie Interesse.
Er legte die Blätter mit ihren Befunden, die er auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hatte, sorgfältig wieder zusammen, bevor er alle in eine grüne Klarsichthülle schob. Er ließ sich Zeit damit. Dann blickte er auf und nahm seine Brille ab.
»Ich denke, ja«, sagte er.
Sie nahm ihre Handtasche, die sie neben sich auf dem Boden abgestellt hatte. Sie wollte so schnell wie möglich wieder raus aus dieser Praxis. Weg von diesem Arzt, der ihr Todesurteil in dieser grünen Klarsichthülle hielt. Sie wollte raus auf die Straße. Dorthin, wo Michele, dem sie gesagt hatte, sie müsse zum Zahnarzt, in einem Café auf sie wartete. Dorthin, wo das Leben war. Ihr Leben.
»Machen Sie einen Termin für mich aus«, brachte sie mit gepresster Stimme hervor. »Einen Termin im Krankenhaus.«
»Natürlich. Ich sehe zu, dass Sie noch diese Woche untersucht werden, und dann …«, er griff nach seiner Brille, setzte sie jedoch nicht wieder auf, »… dann sehen wir weiter.«
Als sie ein paar Tage später wieder bei ihm war, hatte das Krankenhaus bereits die neuen Befunde weitergeleitet. Sie bestätigten nur, was Marthas Ärztin ihr kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag vorhergesagt hatte. Der Krebs grub sich mit seinen Scheren und Zangen in die entlegensten Winkel ihres Körpers, legte beharrlich neue Tochtergeschwüre aus. Von Schmerztherapie war nun die Rede, von Medikamenten gegen den Druck im Magen, von Infusionen, die sie zweimal wöchentlich in der Praxis bekommen würde und die ihr Immunsystem etwas stabilisieren sollten.
»Das wird Ihnen noch eine Weile eine gewisse Lebensqualität verschaffen«, sagte der Arzt diesmal.
»Was heißt das?«
»Es kann irgendwann sehr schnell gehen.«
»Ich möchte in kein Krankenhaus.«
»Das weiß ich. Ich habe gestern lang mit Ihrer Ärztin zu Hause in Deutschland telefoniert.«
»Und?«
»Falls Sie gar nicht mehr können, müssen Sie in eine Klinik. Ich kenne da eine, da wird man sich gut um Sie kümmern. Die haben eine ausgezeichnete
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