Das unendliche Blau
Palliativstation.«
»Sie verstehen mich nicht.«
»Doch, Signora, ich verstehe Sie sogar sehr gut. Aber ich bin Ihr Arzt, und ich muss Ihnen das so sagen. Sie werden irgendwann zu schwach werden, um …« Er beendete den Satz nicht.
Diesmal begleitete er sie zur Tür, und als sie die Klinke drückte, legte er ihr ganz kurz die Hand auf die Schulter. Eine winzige vertrauliche Geste, die alles zwischen ihnen änderte.
»Ich kann zu Ihnen kommen, wenn…«, sie suchte nach Worten, »… wenn gar nichts mehr geht?«
Er holte tief Luft, als wollte er etwas sagen, doch er ließ die Luft nur geräuschvoll hinaus. Dann nickte er.
Sie lächelte ihn an.
Als er zurücklächelte, wusste sie, dass sie sich, wenn es so weit war, auf ihn würde verlassen können.
Nach diesem Termin traf sie sich nicht mit Michele. Sie trat aus dem Hauseingang auf die Straße, ging ein paar Schritte, holte ihr Handy aus der Tasche und wählte seine Nummer.
Seine Mailbox meldete sich.
Sie könnten sich heute nicht sehen, erklärte sie knapp. Sie müsse mal allein sein.
Fünf Minuten später klingelte ihr Telefon. Sie hob nicht ab, sondern ließ die Melodie ins Leere spielen.
Am Morgen nach dem Frühstück hatte er sie bereits gefragt, was los sei. Sie räumte gerade die Teller und Tassen zusammen und hielt kurz inne, als könnte sie so die rotierenden Gedanken in sich zum Stillstand bringen. Beim Aufwachen hatte sie Micheles Hand auf ihrem Bauch gespürt und sich in genau diesem Moment gewünscht, für immer die Augen zu schließen. Leise abzutreten und wenigstens eine Ahnung von Happy End mitzunehmen. Doch dann rührte er sich, sie spürte seine kleinen Küsse, die sie so liebte, in ihrem Nacken, und sie spürte gleichzeitig eine nie gekannte Traurigkeit, die sie aus dem Bett mit in die Küche nahm und dort auf den Tisch legte. Neben das Weißbrot und den Honig und die frischen Früchte. Sie hatten sich angewöhnt, opulent zu frühstücken.
»Ach, nichts«, entgegnete sie, während die Teller und Tassen in ihrer Hand leise zitterten. Was sollte sie auch sagen? Der Wahrheit die Tür öffnen, damit die zerstören konnte, was Tag für Tag wuchs und sich dieser Wahrheit mehr und mehr widersetzte? Die Liebe, die wie eine Sternschnuppe am Himmel erschienen war, einfach zu Staub zerfallen lassen? Nein, sie wollte den Traum nicht verlassen, der doch gerade erst begonnen hatte. Sie wollte noch eine Runde weiterträumen.
Sie stellte das Geschirr ab und strich Michele die Haare aus der Stirn. Er zog sie zu sich auf den Schoß, fuhr unter ihr Nachthemd und umfasste ihre Hüften. »Wirklich?« Seine Stimme synchronisierte die kleinen Falten, die sich zwischen seine Augenbrauen gesetzt hatten und Zweifel verrieten.
Sie erwiderte nichts. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und ließ ihn dort liegen. Zwei, drei Minuten regte sie sich nicht, roch seinen inzwischen so vertrauten Geruch, spürte die Wärme in der kleinen nackten Kuhle, hörte sein Herz bis hier hinauf schlagen.
Als sie auf dem Gehsteig vor der onkologischen Praxis ihr Handy klingeln ließ, wusste sie, dass sich nicht mehr lange würde aufschieben lassen, was sie gerade von dem Arzt erfahren hatte.
Sie gab sich einen Ruck, machte ein paar Besorgungen und ging danach auf direktem Weg in die Schule, die um diese frühe Nachmittagszeit fast ausgestorben wirkte. Nur ein paar Schüler saßen an den Computern und nickten Martha zu.
Sie setzte sich in eines der Klassenzimmer, holte ihr mittlerweile eng beschriebenes Heft heraus, legte das Lehrbuch daneben und begann mit ihren Hausaufgaben. Sie hatte sich es zur Gewohnheit gemacht, hier zu arbeiten, umgeben von dem Geruch nach Tafel und Schwamm und Kreide.
Die Aufgaben fielen ihr leicht. Unregelmäßige Verben in die Vergangenheitsform setzen.
Ich habe gesehen, du hast gesehen, wir haben gesehen. Ich habe gelebt, du hast gelebt, wir haben gelebt.
Martha schrieb die korrekten Kombinationen in ihr Heft.
Ich habe geliebt, du hast geliebt, wir haben geliebt,
schrieb sie dazu, obwohl »lieben« gar nicht zu den unregelmäßigen Verben gehörte.
Ho amato, hai amato, abbiamo amato.
Sie malte Herzen daneben. Herzen, die ineinandergriffen, eine Schnittmenge bildeten. Das letzte Mal hatte sie solche Herzen gemalt, als sie fünfzehn gewesen war.
»Hallo?«
Sie schrak zusammen und verdeckte die Zeichnung schnell mit der linken Hand.
Francesca lachte und zeigte auf das Schulheft. »Es hat euch ganz schön erwischt.«
Martha nahm die Hand
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