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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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niemand mehr leisten kann.«
    Martha sieht die Tischrunde wieder vor sich. Sieht die leicht angetrunkenen Freunde, hört deren verwirrtes, hilfloses, abgeschmacktes Gerede von Midlife-Krise. Auf einmal begreift sie, dass allein der Moment an diesem Abend auf dieser Piazza ausreicht, den Satz ihrer Freundin zu entwerten. Der Moment, in dem ihr Menschen Perlen zutragen und sie nichts weiter tun muss, als die Hände aufzuhalten. Allein wegen dieses Moments hat sich die Reise gelohnt.
    Sie weiß nicht, ob sie sämtliche Perlen zurückbekommen hat, als sie den Leuten noch mal zuwinkt, um sich dann mit einem
»Buona sera«
zu verabschieden. Aber das ist auch egal. Was zählt, ist, dass manchmal etwas reißen muss, damit man erfährt, worauf es ankommt.
    Sie sieht in den Himmel, der ein dunkleres Blau aufgezogen hat, ein klares tiefes Blau, das in den Abend hineinleuchtet. Es ist kurz vor sieben an diesem Abend im Oktober. Martha ist um halb acht verabredet. Und weil ihr noch etwas Zeit bleibt, setzt sie sich auf die Stufen vor San Petronio, dort, wo sie vor über fünf Wochen an ihrem ersten Abend in der Stadt neben dem jungen Pärchen saß. Damals trug die Luft noch den Duft des Sommers in der Kopfnote.
    Jetzt sind die Steintreppen etwas kühler geworden. Aber Liebespärchen sind noch immer dort, auch wenn sie sich bei ihren Küssen einen kalten Po holen. Sie werden hier wohl auch im Winter sitzen, denkt Martha, und sie lächelt bei diesem Gedanken. Lächelt, weil sie weiß, was die jungen Leute spüren, hat sie doch selbst die Liebe gefunden in den letzten Wochen. Hat keine Verrücktheit ausgelassen. Hat Nächte zum Tag gemacht und Tage zur Nacht. Ist mit Michele stundenlang durch Arkaden gestreift, um die Form der Bögen, die Deckenmalereien, das Lichtspiel der Laternen zu bestaunen.
    Sie hat auf Mauern gesessen und Pizza aus der Hand gegessen und Rotwein aus der Flasche getrunken. Hat zwei Stunden einem Harfenspieler zugehört, der selbstvergessen mittelalterliche Stücke zum Besten gab und der sein Instrument so wunderbar beherrschte, dass Michele ihm zum Dank sein ganzes Kleingeld schenkte und Martha ihres noch dazulegte.
    Sie hat auf der kleinen Brücke gestanden, die über den einzigen oberirdischen Kanal Bolognas führt und den Blick freigibt auf trübes Wasser, bunte Wäscheleinen und schiefe Balkone. Sie hat auf dieser Brücke den wohl längsten Kuss ihres Lebens bekommen. Einen Kuss, der sich darin gefiel, alle Tempi auszuprobieren, der sich von Zugabe zu Zugabe spielte und den Schlussakkord hinauszögerte, als sei dies sein letztes großes Konzert. Hier war es auch, wo Michele ihr zum ersten Mal in seiner Sprache die zwei Worte sagte, für die man in ihrem Land drei braucht –
ti amo.
Und sie nickte nur, nickte gleich mehrmals, als könnte sie damit die Tränen wegnicken, die aus dem Hinterhalt anrollten und auf ihren Wangen Kriechspuren hinterließen. Ich dich auch, sagten Nicken und Tränen.
    Sie hat auch ihre ersten Asanas geübt in diesen Wochen, in den Giardini Margherita, wo sie und Michele eines Morgens der Sonne beim Aufgehen zusahen. Auf einer Wiese zeigte er ihr den Hund, die Katze, die Kuh, die Heuschrecke. Er zeigte ihr an dem Morgen nur die Tiere, die beim Yoga mitspielten; erst später kamen sie zum Bogen, zum Pflug, zum Helden. Er brachte Martha bei, wie man mit dem Atem alle Gedanken wegschicken kann. Sie spürte, wie sich ihr Körper dankbar öffnete, wo er bislang verschlossen gewesen war. Seitdem übt sie jeden Tag, mal allein, mal gemeinsam mit Michele, atmet und dehnt sich und blendet für Augenblicke aus, was da in ihrem Inneren zum finalen Sprung ansetzt.
     
    Als sie irgendwann zu der Adresse ging, die ihre Ärztin ihr gegeben hatte, und an der Tür des Onkologen klingelte, kam ihr das fast absurd vor. Natürlich, da war die Luftnot beim Treppensteigen. Da waren seit kurzem neue Schmerzen im Bauch. Und in der Grammatikstunde konnte sie eines Morgens auf einmal für Momente ihre Finger nicht mehr bewegen. Aber sie hatte all diese Klopfzeichen ihres Körpers einfach überhört, weil Kopf und Herz sich frei fühlten wie lange nicht mehr.
    Was soll ich hier?, dachte sie, während sie in dem schicken Wartezimmer die italienischen Hochglanzmagazine durchblätterte. Natürlich wusste sie die Antwort, aber eine Stimme in ihr versuchte ihr einzuflüstern, dass möglicherweise alles ein Versehen und es gar nicht so schlimm um sie bestellt sei. Diese Stimme ging eine Allianz mit der Hoffnung

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