Das unendliche Blau
wieder weg.
Francesca setzte sich neben sie. »Michele hat mich eben angerufen.«
»Was wollte er?«
»Er fragte, ob ich weiß, wo du bist. Nun ja, jetzt weiß ich es.« Sie krempelte sich die Ärmel ihrer Bluse hoch. Es war warm und stickig im Raum. »Er hat wohl versucht, dich zu erreichen.«
»Ich weiß.«
»Er meinte, du bist heute Morgen so eigenartig gewesen, so anders.«
Martha legte ihren Bleistift, den sie noch immer in der Hand hielt, auf den Tisch. »Redet ihr zwei viel über mich?«
»Er ist mein Bruder. Wir haben uns immer alles erzählt. Ich hab dir damals in Triest ja bereits …«
»Er weiß nichts, oder?«, unterbrach Martha sie.
Francesca schüttelte den Kopf.
»Ich war heute Morgen beim Arzt. Genau genommen war ich letzte Woche schon da, und Dienstag hatte ich eine Untersuchung im Krankenhaus. Ein großes CT . Vorhin habe ich die Ergebnisse bekommen.«
»Und?«
Sie presste die Lippen aufeinander.
»Martha, bitte. Was hat der Arzt gesagt?«
»Ein paar Wochen noch. Mit Schmerzmitteln und Infusionen. Irgendwann werde ich wohl …« Ihre Stimme starb weg.
»… ins Krankenhaus müssen?«
Martha schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht.«
»Aber was wirst du dann tun?«
»Mich verabschieden, Francesca.«
Die Freundin holte tief Luft und ließ sie langsam wieder hinaus.
»Keine Angst, eine Weile bin ich ja noch da«, beeilte sich Martha zu sagen. »Vielleicht schaffe ich es bis Weihnachten, vielleicht sogar bis ins neue Jahr.«
Francescas Augen füllten sich mit Tränen. »Du musst es Michele sagen«, presste sie hervor.
Martha klappte Heft und Buch zu. »Ich weiß. Ich weiß nur nicht, wie. Ich habe mir bereits einige Male vorgenommen, mit ihm zu reden, aber dann … Ich will all das nicht einfach so zerstören, verstehst du?«
»Natürlich, aber andererseits ist es nicht fair.«
»Das Leben ist eben nicht immer fair.«
»Mein Bruder war selten so glücklich. Er macht Pläne, Martha, Zukunftspläne. Er will mit dir Jahre verbringen, nicht bloß Monate.«
»Das würde ich auch gern«, entgegnete Martha leise.
»Wie ist der Arzt? Kommst du mit ihm klar?«, wechselte Francesca das Thema.
Martha folgte ihr. »Zunächst war er sehr sachlich. Fast abweisend. Ein typischer Mediziner eben. Inzwischen sind wir uns einig.«
»Was heißt das?«
»Er wird mir helfen.«
Francesca schwieg. Ihr Blick ging zur Tafel, auf die jemand ein paar Blumen gezeichnet und
»fiori«
danebengeschrieben hatte. »Wie sieht’s da drinnen aus?«, fragte sie schließlich und zeigte auf ihr Herz.
»Wenn ich ehrlich bin, ziemlich chaotisch«, erwiderte Martha. »Weißt du, ich habe gerade das Leben gefunden, das echte, pralle Leben, und muss ihm im selben Moment Lebewohl sagen. Carpe diem
,
rede ich mir ständig ein. Wie ein Mantra bete ich mir das vor: Nutze den Tag. Jeden Morgen, den ich noch wach werden und Michele in die Augen sehen darf. O Gott, Francesca, warum hab ich nicht viel früher damit angefangen?«
»Mit dem Leben?«
»Ja. Ich hab meine Tage und Wochen und Monate und Jahre vertrödelt. Hab mich an die Kandare genommen und mir eingeredet, so ist sie nun mal, unsere Existenz hier auf diesem Planeten. Man kriegt nix geschenkt, also muss man sich eben abmühen und Abstriche machen. Da gab’s keine Reichtümer, da gab’s immer nur Minus auf dem Konto. Ich ging an meine Ressourcen, plünderte mich regelrecht aus, aber auf der Haben-Seite? Niente. Das reinste Nullsummenspiel. Ich hab einfach nichts eingezahlt, Francesca. Hab mir untersagt, was ich wollte, und meinen ganzen hübschen Wünschen einen sauberen Arschtritt verpasst.«
Jetzt begann auch sie zu weinen. Sie spürte Francescas Hand auf ihren Schultern.
»Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Martha. Man kann doch nicht jeden Tag leben, als ob’s der letzte wäre. Das schafft kein Mensch. Es ist normal, dass man nicht immer tut, was man wirklich will, dass man Jahre mit Nichtigkeiten vergeudet, Dinge aufschiebt, weil man glaubt, man hätte noch Unmengen an Zeit.«
Martha sah sie an, sah in blaue Augen, Augen wie die von Michele. Und plötzlich lachte sie, erst leise, dann immer lauter. Ein unkontrolliertes Lachen, das sich Bahn brach und binnen Sekunden alle Tränen mitnahm. »Ist schon verrückt«, prustete sie heraus. »Da meint man, alles richtig zu machen, und fischt doch immer nur Nieten aus der großen Lotterietrommel. Und kaum hält man den Hauptgewinn in den Händen, heißt es, den darfst du aber nicht behalten, den
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