Das unendliche Blau
Wochen. Das Staunen hat inzwischen einem anderen Gefühl Platz gemacht. Dem Gefühl dazuzugehören.
Jetzt, um diese Stunde, haben die Musiker wieder ihre Instrumentenkoffer aufgeklappt, darauf wartend, dass Zuhörer und Passanten ein paar Münzen hineinwerfen.
Martha trägt ein neues Kleid, das sie gestern gekauft hat. Ein schwarz-weißes Kleid mit Stehkragen und kleinen Knöpfen an Ärmeln und Rücken. Fast ein bisschen mädchenhaft, fand sie, als sie damit aus der Umkleidekabine kam. Aber Michele überredete sie, das Kleid zu nehmen. Es mache sie noch hübscher und noch jünger, sagte er, und sie glaubte ihm das nur allzu gern.
Heute hat sie dazu ihre alte schwarze Perlenkette aus einer der Kisten geholt, die in dem Container waren, den Hans und Lina ihr vor einigen Tagen geschickt haben. Kisten, in die ihre Tochter hineingepackt hat, was sie ihr aufgetragen hatte. Schuhe und Kleidung für die kältere Jahreszeit. Einen Schal. Ein Umhängetuch. Lederhandschuhe. Ein paar Unterlagen von der Krankenversicherung. Ihre Wolldecke, die bereits seit Schultagen jeden Umzug mitgemacht hat. Einige CDs, ohne die sie nicht sein kann – Miles Davis, Leonard Cohen, Chet Baker, Ella Fitzgerald, Santana. Bücher, die sie noch mal lesen will – Calvinos
Unter der Jaguar-Sonne,
Doris Lessings
Das
Goldene Notizbuch,
Hemingways
In einem anderen Land.
Bücher, von deren Inhalt sie nur noch eine leise Ahnung hat, von denen sie aber weiß, dass sie sie vor langer Zeit mochte. Sehr mochte. Auch Gedichte von Else Lasker-Schüler und Erich Kästner hat sie sich schicken lassen. Zwei Fotoalben aus der Zeit, als Lina noch ein Kind und Hans noch bei ihnen war. Ihre blaue Teetasse mit Deckel, die ein Kollege aus China mitgebracht hat. Ihr Handy, weil doch ein paar Telefonnummern darin abgespeichert sind, die sie jetzt braucht. Den Schuhkarton, in dem sie alte Briefe aufbewahrt. Und ihren Schmuck.
Die schwarze Perlenkette war ein Geschenk von Hans gewesen zu ihrem dritten Hochzeitstag. Keine echten Perlen, hatte er damals gesagt. Sie hatte gelacht und erklärt, das sei doch egal. Sie trug die Kette in den glücklichen Jahren mit ihm, und er freute sich darüber. Erst nach der Scheidung räumte sie fast alles weg, was sie an ihn erinnerte. Nur die Uhr trug sie weiterhin.
Hans rief Martha an, nachdem der Container verschlossen und bei der Bahn aufgegeben war. »Das mit der Kette hat mich überrascht«, sagte er.
»Ich beginne, die Dinge anders zu sehen«, entgegnete sie.
»Du beginnst nicht gerade früh damit.« Er konnte das Bedauern nicht unterdrücken, vielleicht wollte er das auch gar nicht.
»Ich weiß«, sagte sie.
Dass Lina und er sich vorgenommen hätten, sie gemeinsam zu besuchen, eröffnete er ihr am Schluss.
Sie wollte schon Einwände in Stellung bringen, aber dann spürte sie, dass sich etwas in ihr freute. Und sie ließ diese Freude einfach zu. Pfiff ihre ewigen Abers zurück und entgegnete nur: »Das wäre sehr schön, Hans.«
Sein Erstaunen über ihre Antwort entging ihr nicht, es erreichte sie trotz der Kilometer und Grenzen, die zwischen ihnen lagen.
Das mit der Kette passiert völlig unvermittelt. Es passiert mitten auf der Piazza. Plötzlich reißt die Schnur, und die Perlen fallen zu Boden. Eine nach der anderen. Sie treffen auf das Pflaster und hüpfen und kullern in alle Richtungen davon, rollen den Tauben vor die Füßchen, den Kinderwagen vor die Räder, den Passanten zwischen die Beine. Martha versucht noch, sie aufzufangen, aber vergebens. Sie hört nur dieses sich multiplizierende Klacken der schwarzen Kugeln, die über den Platz springen.
Sie bückt sich, und während sie das tut, kommt ein alter Mann auf sie zu, in der Hand drei Perlen, die er ihr hinhält. Eine Frau mit Hund bringt ihr zwei, ein Junge mit Rastalocken gleich fünf. Die Leute lachen, während sie den Platz absuchen. Sie reden miteinander, und sie nicken Martha aufmunternd zu, die nur dasteht und beide Hände aufhält, in die nun immer mehr Menschen immer mehr Perlen geben. Ein Suchspiel, an dem bald zehn, fünfzehn, zwanzig Frauen und Männer beteiligt sind. Eine wahre Ketten-Reaktion, denkt Martha und bedankt sich bei allen mit
»Grazie mille«
und
»Grazie tanto«.
Und während sie dasteht und den fremden Leuten zusieht, die für sie zu Boden gehen, kommt ihr der Satz ihrer Freundin in den Sinn. Dieser Satz, der sie an ihrem Geburtstag vor vielen Wochen hat aufbrechen lassen.
»Carpe diem ist eine Einstellung, die sich heute
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