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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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steuerte, sondern losließ und die Liebe dem Autopiloten in sich anvertraute. Das mit dem Autopiloten hatte Martha kürzlich gesagt. Michele hatte sie kopfschüttelnd angesehen und gemeint, früher hätten die Leute es schlicht das Herz genannt. Und dann hatte er gelacht und zugegeben, dass er altmodisch sei in diesen Dingen.
    Warum erst jetzt? Die Frage sah Martha aus dem Spiegel an, als sie sich wenig später im Badezimmer die Haare bürstete. Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich um und holte das Fläschchen mit den Schmerztabletten aus ihrem Kosmetikbeutel. Sie hatte es gut versteckt unter ein paar Wattepads. Sie nahm eine Tablette heraus, ließ kurz den Hahn laufen, fing etwas kaltes Wasser mit dem Mund auf und schluckte die kleine weiße Pille hinunter. Seit einigen Tagen brauchte sie mehr davon, aber der Arzt hatte ihr gesagt, sie könne sie nach Bedarf nehmen, und das tat sie. Sie wurde etwas schläfrig davon, aber wenn Michele sie auf ihre ständige Müdigkeit ansprach, schob sie das auf die Schwüle, die mit dem Hoch gekommen war, das seit einer Woche über Italien lag und ein bisschen so tat, als sei noch Sommer. Wetterfühligkeit, das erklärte alles, fand Martha. Fürs Erste zumindest.
     
    Warum erst jetzt? Sie hat die Frage mitgenommen an den Strand. Und während sie neben Michele barfuß durch den Sand läuft, folgt die Frage ihnen wie ein aufdringlicher Begleiter.
    »Meinst du, dass alles seine Zeit hat im Leben?«, fragt sie plötzlich.
    »Wahrscheinlich. Die Dinge kommen irgendwann. Man meint oft, man könnte etwas beschleunigen, wenn man nur an den richtigen Schräubchen dreht, aber das ist wohl eine große Illusion. Wir sind so sehr aufs Machen fixiert und vergessen dabei das Sein.«
    »Also glaubst du ans Schicksal?«
    »Na ja, ich glaube daran, dass bestimmte Ereignisse unverhandelbar sind. Wir haben unseren Job zu erledigen in diesem Leben. Und irgendwie spüren wir tief drinnen, ob wir grad das Richtige tun oder auf der falschen Spur unterwegs sind.« Er bückt sich und hebt eine Muschel auf, eine weiße mit silbernen Einfärbungen, und legt sie ihr in die Hand. »Schau mal, die ist schön.«
    »O ja, sie glänzt noch vom Wasser. Sie wirkt fast wie Perlmutt.«
    »Ich schenk sie dir.«
    »Danke. Das ist die Art von Geschenken, die ich mag.«
    »Keinen Schmuck, keine Handtaschen, keine teuren Parfums?«
    Sie lächelt. »Früher, ja, aber mittlerweile … ach, es klingt so platt, wenn man sagt, dass andere Dinge zählen.«
    »War dein Mann großzügig?«
    »Hans? Ja, sehr. Vielleicht zu sehr. Geschenke kaschieren auch, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Er nickt. »Ich bin kein besonders guter Kaschierer. Ich neige eher dazu, Geburtstage zu vergessen.«
    »Kommt nicht gut an.«
    »Nee, kommt gar nicht gut an. Frauen können da ziemlich nachtragend sein. Carla hat mir noch Jahre später vorgeworfen, dass ich da so nachlässig bin. Komisch, aber an Giovannis Geburtstag hab ich immer gedacht.«
    »Vielleicht, weil dein Sohn dir wichtiger war.« Sie denkt an den elfjährigen Jungen, den Michele ihr an einem Sonntag vor zwei Wochen vorgestellt hat. Ein Junge mit den blauen Augen seines Vaters. Ein stiller Junge und trotzdem extrem wach. Er beobachtete Martha lange, während sie zusammen spielten, erst Memory, dann Scrabble. Irgendwann begann er, Fragen zu stellen, direkte, intensive Fragen. Er redete Deutsch mit seinem Vater und mit ihr, ein weiches singendes Deutsch, das die italienische Muttersprache nicht verbergen konnte. Seine Fragen begannen alle mit »W«: Warum? Wieso? Weshalb? Wo? Wer? Wie? Was? Woher? Wohin? Wann? Sie antwortete ihm, erzählte von sich, von ihrem Zuhause und davon, dass sie eine Tochter habe, die Lina heißt. Ihn schien das zu überzeugen, und als er am Abend seinen Rucksack nahm, um zu seiner Mutter zurückzufahren, schenkte er ihr ein Grinsen. So ein schiefes, das nur Jungs hinbekommen. Und sie wusste, dass sie gewonnen hatte. Michele wusste es auch.
    »Ja, ich liebe ihn sehr«, erwidert er jetzt. »Und ich hasse diese Besuchswochenenden.«
    Martha dreht die Muschel in ihrer Hand, besieht sie von allen Seiten, als befänden sich in den Rillen tiefe Erkenntnisse. »Lina war auch so ein Besuchswochenenden-Kind«, sagt sie.
    »Na ja, die alte Scheidungsproblematik eben. Das bleibt nicht aus, wenn die Eltern mit der Liebe kurzen Prozess machen.«
    »Puh, mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke. Ich wollte mit diesem Mann nichts mehr zu tun haben, und dann musste

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