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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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Sie haben die Läden dichtgemacht, nur hier und da steht noch ein Sonnenschirm auf einer Terrasse, als hätte ihn der Sommer dort vergessen.
    Es ist halb neun, als Martha und Michele Rimini erreichen. Der Oktobertag hat sich verausgabt, hat all seine Restwärme verbraucht; der Abend bringt Kühle und frühe Dunkelheit.
    Das Kino liegt in einer der Altstadtgassen. An der Hauswand hängen ein paar Schaukästen mit dem aktuellen Programm und der Vorschau auf die nächsten Wochen. Die Plakate, die Fotos einzelner Filmszenen, die Zeitungsausschnitte mit Kritiken hat jemand mit Heftzwecken dort befestigt. Es sieht aus, als habe er das in größter Eile getan; alles wirkt schief und irgendwie beiläufig. Das Spätprogramm hat einen eigenen Kasten; eine Hommage an Federico Fellini hinter blinden Scheiben. Die Bilder dort scheinen lange nicht ausgewechselt worden zu sein; die Schwarzweißaufnahmen haben den typischen Sepia-Ton angenommen, den Technicolorfarben ist ihre Intensität abhandengekommen. Daneben sind die Filmtitel aufgelistet –
La strada, La dolce vita, Roma, Otto e mezzo, Il casanova, Giulietta degli spiriti, L’amore in città, La città delle donne, La voce della luna, Amarcord …
    Martha liest laut vor, deklamiert die berühmten Titel, spielt mit der Melodie der italienischen Sprache, die sie inzwischen so liebt.
    Michele lächelt. »Du hörst dich süß an.«
    »Italienisch mit deutschem Sound, oder?«
    »Nein, nein, du hast Talent. Wenn ich überlege, wie du vor ein paar Wochen angefangen hast … In einigen Monaten wirst du fließend sprechen können.«
    Sie nickt ein bisschen zu heftig. Als ließen sich die Gedanken, die augenblicklich hochdrängen, allein durch die Bewegung des Kopfes abschütteln. »Lass uns die Karten holen, ja?«
    Michele kauft bei dem Mädchen, das an der Kasse sitzt, zwei Biglietti. Ein junges Ding mit schwarzgefärbten Haaren und gepiercten Nasenflügeln und Ohrsteckern in Form glitzernder Totenköpfe. Sie grinst ihn an und zwinkert ihm zu, während sie die Karten von einer rosa Rolle abreißt und mit dem Wechselgeld in das Ausgabefach legt, das sich mit einem kleinen Hebel um die halbe Achse dreht. Sie flirtet ganz offensichtlich mit ihm, und er grinst zurück, und irgendwie versetzt das Martha einen Stich. Einen Nadelstich, kaum wahrnehmbar und trotzdem präzise. Er wird wieder Frauen haben, durchfährt es sie. Nach mir werden andere in seinem Bett liegen und morgens mit ihm frühstücken. Er wird sie küssen und streicheln und mit ihnen lachen. Vielleicht wird er ihnen sogar von einer Frau erzählen, die er sehr geliebt hat und die gestorben ist. Von Martha, mit der er an einem warmen Wochenende Ende Oktober in Rimini glücklich gewesen ist, kurz bevor der Winter kam und alle Wärme aus dem Leben fegte.
    In einer Bar um die Ecke trinken sie noch einen Rotwein, bevor die Vorstellung beginnt.
    »Kennst du diesen Film, in dem ein kleiner Junge immer bei dem Vorführer im Kino sitzt, ganze Nachmittage lang?«, fragt Martha.
    »Du meinst
Cinema paradiso?
« Michele lacht. »Und ob ich den kenne. Ich liebe den Film. Wegen der strengen Padres im Publikum muss der Alte aus sämtlichen Filmen die Kussszenen rausschneiden …«
    »… tja, und irgendwann ist er blind, und das Kino ist verschwunden, weil keine Leute mehr gekommen sind …«
    »… und nachdem er gestorben ist, kehrt der kleine Junge von damals, der jetzt ein erwachsener Mann ist, in das Dorf zurück. Und sein alter Freund hat ihm eine Filmspule in einer dieser Blechbüchsen hinterlassen …«
    »… mit den schönsten Kussszenen.«
    »Ich hab den Film bestimmt vier, fünf Mal gesehen und hab jedes Mal geheult.«
    »Du weinst im Kino?«
    »Du etwa nicht?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Das ist mir zu öffentlich.«
    Er zieht die Augenbrauen hoch. »Erstaunlich. Eine Frau, die bei traurigen Filmen nicht weint.«
    »Doch, doch«, beeilt sie sich zu sagen, »zu Hause schon, wenn ich allein bin. Aber nicht im Beisein fremder Leute. Ich hab das früh geübt, weißt du. Meine Mutter hat mir immer eingetrichtert, mich zu beherrschen.«
    »Du hast noch nie von ihr geredet. Immer nur von deinem Vater. Lebt sie noch?«
    »Nein. Sie ist vor zig Jahren gestorben. Wir hatten ein ziemlich angespanntes Verhältnis.«
    »Schon eigenartig.«
    »Was?«
    »Diese Dinge lassen uns nie los.«
    »Welche Dinge meinst du?«
    Er leert sein Glas Wein in einem Schluck und macht dem Mann hinter dem Tresen ein Handzeichen, dass er zahlen will.

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