Das unendliche Blau
ein Anfang?«
»Etwas mehr als das. Mittlerweile sind es gut hundert Seiten.«
»Um was geht’s?«
»Um einen Mann Anfang vierzig, der an den Strand seiner Kindheit und Jugend fährt und dort zufällig das Mädchen wiedertrifft, mit dem er seine ersten Vollmondnächte am Meer verbracht hat.«
»Hört sich romantisch an.«
»Nee, ist es eigentlich gar nicht. Sie ist mollig geworden und hat nervige Kinder, aber noch immer schöne Augen.«
»Und er?«
»Hat eine Ehe und jede Menge verpasster Chancen hinter sich und vertut seine Zeit mit einem Job, den er nie machen wollte. Er ist ein Mann mit einem Nachsaison-Gefühl.«
Sie nickt. Sie versteht genau.
»Und dann kommt da dieses Mädchen daher, und plötzlich sind sie wieder da, die Träume von damals. Die Farbe ist ein bisschen abgeblättert, sie haben Löcher bekommen, durch die der Wind pfeift. Eine Traumlandschaft wie dieser Strand hier – alles gestrig, aber alles noch da. Na ja, da stehe ich gerade …«
»Wie soll’s denn weitergehen?«
»Er denkt sich irgendwann: Verdammt, man kann mit diesem Zeug noch mal eine neue Saison wagen. Man muss nur den Winter vorbeigehen und den nächsten Sommer kommen lassen. Im Grunde ist es wie beim Atmen.«
Sie sieht ihn erstaunt an.
»Na ja«, erklärt er, »die Nachsaison steht für das Gefühl der Leere, aber die braucht man, um Raum zu schaffen für Energie.«
Marthas Fuß spielt noch immer mit dem roten Ball. »Manchmal gibt’s aber auch keine neue Hochsaison im Leben«, sagt sie leise.
»Hey«, er übernimmt den Ball und schießt ihn hinaus aufs Wasser. »Du und ich, wir holen gerade tief Luft für eine weitere Runde. Glaub mir, Martha, da kommt noch einiges. Das Spiel beginnt erst jetzt, richtig Spaß zu machen.«
Sie schweigt und sieht an ihm vorbei aufs Meer, das nun ein paar Wellen mehr schlägt als vor einer halben Stunde noch.
»Wir haben uns gefunden«, setzt Michele nach. »Wir sind nicht mehr ganz unversehrt, okay, aber das kann auch ein Vorteil sein. Was ich vom ersten Augenblick an gespürt habe, ist völlig neu für mich: Ich weiß nach zig Jahrzehnten zum ersten Mal, was ich wirklich will.«
»Was?« Sie schaut ihn an, und Angst schleicht sich in ihren Blick.
Er lacht sie an. »Ich will dich nicht mehr loslassen. Das mit dir und mir bleibt keiner meiner ewigen Anfänge. Das schreiben wir weiter. Wir heben Anfang und Ende auf, machen aus unserem Leben einen großen Ozean und geben den Himmel noch dazu. Das unendliche Blau eben …«
Martha schluckt hinunter, was sie sagen wollte. Wie einen schweren, unverdaulichen Bissen.
Francesca fällt ihr ein. Und Robert. Die Appelle, mit Michele zu reden. Ja, sie hatte sich das fest vorgenommen an diesem Wochenende. Noch im Auto auf der Fahrt hierher hatte sie neben ihm gesessen, seine Hände auf dem Lenkrad angeschaut und insgeheim Sätze formuliert. Doch wie würden ihre Sätze aussehen? Ich bin krank, todkrank. Ich werde nicht mehr lang leben. Wir haben keine Zukunft. Was uns bleibt, ist eine Ansammlung von Augenblicken, die von Stunde zu Stunde weniger werden, die verdampfen wie Wassertropfen in der Sonne. Sollte sie mit solchen Sätzen wirklich alles zunichtemachen? Die Magie dessen, was ist, auf dem Altar der Ehrlichkeit opfern? Die letzten Momente, die ihnen blieben, mit der Wahrheit erschlagen? Wollte sie Sorge und Angst in seinen Augen lesen, diesen Augen, die sie so liebte, wenn er sie morgens aufschlug und ihr damit sagte, dass allein ihre Gegenwart für ihn ein Wunder ist?
Nein, nein, nein. Nichts wird sie sagen. Nicht an diesem Wochenende. Sie wird sich satt trinken an den gemeinsamen Stunden und keiner dieser Stunden das Gift verabreichen, das alles vorzeitig zum Sterben brächte.
»Ja, wir schreiben weiter an unserer Geschichte«, sagt sie laut.
Und während sie das sagt, tanzt der kleine rote Ball draußen auf dem Wasser, das der aufkommende Wind nun zu Wellen formt. Es macht nichts, dass ihm beizeiten die Luft ausgegangen ist; er schwimmt unverdrossen oben.
Am Abend fahren sie nach Rimini. Sie nehmen die kleine Straße an der Küste. Links das Meer und immer wieder Orte, die nur einen Zweck zu kennen scheinen: den Badegästen von Juni bis September die Zutaten für möglichst laute und heiße Wochen zu bieten. Jetzt liegen sie verlassen da, die Hotels aus billigem Waschbeton, deren ehemals weiße Farbe bereits das Grau des Winterhimmels vorwegnimmt und die Namen tragen, in denen die Worte
mare
und
sole
und
lido
vorkommen.
Weitere Kostenlose Bücher