Das unendliche Blau
im Wechsel. Vier Stunden am Vormittag. Ich bin schon richtig gut geworden.«
Warum machst du das eigentlich noch?, denkt Lina. Doch diese Frage behält sie für sich.
Als ob sie Gedanken lesen könnte, antwortet Martha: »Es bringt Spaß. Ich fühle mich wieder jung. Wie damals, als ich aufs Gymnasium ging. Und ich lerne neue Menschen kennen. Ich muss dir unbedingt Robert und Catherine vorstellen. Ein altes Ehepaar aus Kalifornien, beide extrem belesen und hochintelligent und …«
Den Rest hört Lina nicht mehr. Sie lässt die Sätze der Mutter ins Abseits laufen. Alles in ihr ist nur noch damit beschäftigt, die Tränen zurückzuhalten. Und während Martha neben ihr etwas von einer Francesca erzählt, graben sich Linas Finger in die Polster des Autositzes, als könnte ihr das noch irgendeinen Halt geben.
»Wir sind da.« Martha fährt in eine Toreinfahrt und stellt das Auto im dahinterliegenden Hof zwischen zwei Bäumen ab. Sie sieht zur Seite. »Lina, bitte«, sagt sie leise und streicht ihrer Tochter kurz über den Hinterkopf, wie sie das früher immer getan hat, um sie zu trösten. Früher hat sich Lina die Knie aufgeschürft oder eine Beule am Kopf eingefangen. Jetzt blutet etwas in ihrem Inneren. Etwas, das sich nicht einfach so wegstreicheln lässt.
Sie wendet den Kopf abrupt zur Seite.
»Lass uns erst mal nach oben gehen, ja?« Martha nickt ihr aufmunternd zu.
Sie redet weiter, während sie die Treppen hochsteigen. Sie hat die Tochter gebeten, ihr Gepäck selbst zu tragen, und bleibt nun in jedem Stockwerk stehen, um kurz auszuruhen. Ihr Atem geht schwer. »Ich bin nicht mehr besonders fit, weißt du«, erklärt sie und zieht dabei die Augenbrauen hoch, als würde sie diese Tatsache selbst überraschen.
Du bist schwer krank, denkt Lina. Und wieder sagt sie nichts.
Es riecht nach Essen im Treppenhaus. Aus einer Tür kommt Kindergeschrei, aus einer anderen Klaviermusik, irgendwo streiten ein Mann und eine Frau. Bei ihnen zu Hause in Deutschland ist immer alles still. Die Nachbarn sind weit weg, hinter ihren Thujahecken. Nur samstags, da hört man die Rasenmäher, Schlag drei Uhr am Nachmittag geht’s los; jeder hält sich dort an die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten.
Dieses Haus hier ist anders. Auch ihre Mutter ist anders. Sie ist nicht nur dünn geworden – sie ist schöner geworden. Sie hat dieses Leuchten in den Augen. Und sie geht aufrechter, trotz der Atemnot hält sie sich gerade. Keine eingefallenen Schultern mehr, die sie früher stets mit einem großen Tuch zugehängt hat. Das Bild von ihrer Mutter am Schreibtisch, konzentriert und leicht vorgebeugt, hat nichts mit der Frau zu tun, die nun die Haustür zu einer der Wohnungen aufsperrt und mit einer einladenden Geste nach innen zeigt.
»Bitte sehr. Mein neues Domizil.«
Lina tritt ein. Sieht, was Martha vor gut zwei Monaten zum ersten Mal gesehen hat. Das helle Sofa, die bunten Kissen, die vielen Bücher. Die Küche mit dem grünen Kacheltisch. Die Terrasse mit den Pflanzenkübeln. Sie bewegt sich langsam, fast vorsichtig, als laufe sie Gefahr, mit ihren Schritten etwas Unwägbares loszutreten.
Ihre Mutter erzählt von einer Giulia, die ihr die Wohnung überlassen hat, solange sie zu Forschungsarbeiten in Kanada ist. Sie habe vor, noch über Weihnachten dortzubleiben.
Weihnachten. Lina zuckt zusammen. Immer hat sie den Heiligen Abend mit Martha verbracht. Sie haben Lachs gegessen und Crémant getrunken. Das ist ihr Ritual gewesen. Weil Lina es so wollte, hat ihre Mutter jedes Jahr einen kleinen Christbaum besorgt, in den sie die alten Kugeln hängten, die noch aus der Zeit mit Hans stammten. Goldene und silberne und rote Kugeln mit Kerzenwachs aus Jahrzehnten, das sich nicht mehr ablösen ließ. Kürzlich, beim Aufräumen im Keller, stieß Hans auf den Karton mit dem Weihnachtsschmuck. Nach einem Blick auf seine Tochter stellte er ihn schnell ins Regal zurück. Sie hatten in diesem Moment beide denselben Gedanken, das spürten sie, aber sie sprachen nicht darüber. Stattdessen fragte Hans, ob sie sich Pizza bestellen sollten. Und Lina willigte erleichtert ein.
Jetzt ist er wieder da, der Gedanke an Weihnachten. Schleicht sich hinein in diese fremde Wohnung und stellt Fragen, vor deren Antworten Lina Angst bekommt. Sie wendet sich ruckartig um, als könnte sie die Angst so abschütteln, sieht angestrengt aus dem Küchenfenster.
»Magst du einen Kaffee?«, fragt Martha.
Lina nickt.
Ihre Mutter holt eine Espressomaschine mit
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