Das unendliche Blau
deiner Mutter in der Küche zu stehen«, fuhr Hans fort. »Wir tranken Wein und probierten und kochten.«
»War das vor meiner Zeit?«
»Ach, du warst noch zu klein und meistens schon im Bett. Irgendwann hat’s dann auch aufgehört mit dem gemeinsamen Kochen. Wie alles aufgehört hat …«
Sie ließ das fürs Erste so stehen, und kurz nach Bolzano schlief sie ein. Sie nahm mit, was ihr Vater erzählt hatte. Nahm es mit in wirre Träume, die typisch sind, wenn man am Tag wegdämmert. Als würde man sich im Niemandsland aufhalten, zwischen zwei Ländern – dort, wo das eine noch nicht aufgehört und das andere noch nicht angefangen hat. Auf diesem schmalen Streifen, begrenzt durch Schlagbäume, die sich heben, um einen wahlweise in das Vergessen oder in die Wirklichkeit zu entlassen. In ihren Träumen sah sie ihre Eltern; sie waren jung, so jung wie auf dem Foto, das zu Hause noch an der Wand im Treppenaufgang hing. Das Bild war im Griechenlandurlaub nach ihrer Hochzeit aufgenommen worden, sie standen an der Reling eines Schiffes und hielten einander im Arm. Ein Schwarzweißfoto, das an den Rändern etwas bräunlich geworden war. Martha und Hans lachten darauf. In Linas Träumen lachten sie auch, aber sie trugen Kochschürzen, und sie scheuchten ihre Tochter weg, als die in einem rosa Nachthemd und mit Teddybär im Arm in der Küche stand, scheuchten sie zurück ins Bett und schlossen die Tür zum Kinderzimmer hinter ihr ab. Es roch sehr gut in der Küche, und es war hell und warm dort. In Linas Kinderzimmer war es dunkel und kalt.
Die Durchsagen am Bahnhof von Verona weckten Lina wieder auf. Eine Frauenstimme, die den Reisenden irgendwas von »
binario sette e binario cinque«
mit auf den Weg gab. Lina rieb sich die Augen und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. Sie sah durch die Scheibe des Abteilfensters, sah Menschen mit Gepäckwagen und Koffern und Buggys vorbeieilen, auf der Suche nach dem richtigen Waggon. Sie hatte die Grenze überschritten; sie war wieder in der Realität angekommen.
Die Frau mit den Sandwiches stieg aus. Sie verabschiedete sich mit breitem Lachen und einem »
Buone vacanze«.
»Na, ausgeschlafen?« Hans sah seine Tochter liebevoll an. Er sah sie an, wie er im Traum eben ihre Mutter angesehen hatte.
Lina nickte. »Wie weit ist es noch?«
»Eine knappe Stunde.«
Sie löste ihre Haare im Nacken, fuhr mit den Fingern durch die leicht verschwitzten Strähnen, zwirbelte sie hoch und steckte sie mit einer breiten Spange wieder fest.
»Wie geht es dir, Papa?«
Er zuckte mit den Schultern. »Eigenartig, dass du mich das fragst.«
»Wieso?«
»Du weißt schon …« Er machte eine Pause, die Platz ließ für Linas schlechtes Gewissen. Sie war oft schroff zu ihm gewesen in den letzten Wochen.
»Ich bin ein bisschen nervös«, fuhr er fort.
Sie sagte nichts.
»Ich habe Martha seit einem guten Jahr nicht mehr gesehen«, erklärte er.
»Wann war das genau?«
»Ich holte damals den alten Plattenspieler ab, der noch im Keller stand.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern.«
»Du warst an dem Abend bei einer Freundin. Deine Mutter war ziemlich kurz angebunden. Sie hat mir noch nicht mal mehr einen Wein angeboten.«
»Hat dich das verletzt?«
Er sah aus dem Fenster. Der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung und verließ den Bahnhof von Verona. »Nicht wirklich. Ich hab nicht mehr damit gerechnet, dass sie nett zu mir ist.«
»Und trotzdem fährst du jetzt zu ihr.«
»Ja, aber vor allem begleite ich
dich,
Lina.«
»Benutzt du den Plattenspieler wieder?«
Er nickte. »Ja, ich liebe meine Schallplatten. Martha konnte damals nicht verstehen, dass ich das alte Ding zurückhaben wollte. Ich hab mir eine neue Nadel besorgt und den Tonarm justieren lassen.«
»Was für Musik magst du eigentlich?«
Er schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wir kennen uns wirklich kaum. Jazz, Lina, guten, alten Jazz. Miles Davis, Charlie Haden, Chet Baker … Als ich deine Mutter kennenlernte, gab es noch diese Plattenläden mit den schalldichten Kabinen.«
»Was für Kabinen?«
Er lachte. »Da merkt man’s mal wieder, du bist halt eine andere Generation. Man bekam damals seine Wunschplatte ausgehändigt, und dann durfte man damit in einen dieser Räume, die nach außen hin völlig isoliert waren. Man saß darin wie in Watte gepackt, setzte sich dicke Kopfhörer auf, startete den Plattenspieler und ließ die Nadel auf die Rillen sinken. Und dann – zurücklehnen und lauschen …«
»Und?« Sein
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