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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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mich, dass du hier bist.« Sie zögert einen Moment. »Dass
ihr
hier seid«, sagt sie dann. »Und da wären wir wieder bei dem, worüber wir vorhin gesprochen haben. Wir sollten jeden Augenblick miteinander auskosten. Dazu gehört auch, dass wir uns die Dinge sagen, die wir uns schon immer sagen wollten. Die Uhr läuft ab. Es
sind
die letzten Tage, die wir miteinander haben.«
    Lina schluckt. »Du wirkst so abgeklärt, so cool«, platzt es dann aus ihr heraus. »Ich begreife nicht, wie du so reden kannst. Hast du gar keine Angst?«
    Martha schüttelt den Kopf. »Nicht mehr. Aber du, oder?«
    »Was für eine Frage.«
    »Ich hatte Angst«, fährt ihre Mutter fort. »Panische Angst sogar. Kurz nachdem ich die Diagnose erfahren habe. Damals, vor meinem Geburtstag. Ich dachte, alles geht jetzt einfach so zu Ende. So unspektakulär. Das Leben läuft einige Monate weiter, wie es immer gelaufen ist. Job, Haushalt, Garten, Besuche bei Papa, hin und wieder ein Wein mit Freunden, irgendwann Krankenhaus –
that’s it.
Und plötzlich merkte ich: Genau davor hatte ich am meisten Angst. Seitdem ich hier bin, ist das anders.«
    »Wieso?«
    »Ich erfülle mir Träume.«
    »Was können das schon für Träume sein, wenn man weiß, dass sowieso bald alles vorbei ist?«
    Martha zuckt zusammen. »Klar«, erwidert sie nach einer Weile, »die Halbwertzeit meiner Träume ist nicht gerade spektakulär, wenn man’s genau nimmt.« Sie zündet sich noch eine Zigarette an. »Aber ob du’s nun glaubst oder nicht, von dem Moment an, in dem ich erfahren habe, dass ich sterben werde, habe ich angefangen zu leben. Ich meine, zu leben ohne das viel zitierte Wenn und Aber.«
    »Aber warum hast du nicht früher …?«
    »Du hast recht«, unterbricht Martha ihre Tochter. »Eigentlich sollten wir das nicht erst tun, wenn wir todkrank sind. Aber wir sind zu hasenfüßig.«
    »Aber es geht schließlich auch nicht immer, dieses Leben nach dem Lustprinzip.«
    Martha trinkt einen Schluck Kaffee. »Ich hab anscheinend ganze Arbeit geleistet mit meiner Erziehung.« Sie verzieht den Mund, und Lina weiß nicht, ob es an dem gerade Gesagten oder an dem bitteren Kaffee liegt.
    »Was ist denn falsch daran, die Dinge realistisch zu sehen?«, fährt Lina sie an.
    »Darum geht’s doch gar nicht. Wir laden uns einen Haufen Ängste auf und wundern uns, dass wir nicht vom Fleck kommen. Das Ganze kaschieren wir mit Verantwortung und Pflichtgefühl und verkaufen uns das dann als Sicherheit und, ja, Realismus. Bis so ein blöder Tumor Schluss macht mit dem verlogenen Kram. Es ist, als ob du auf einmal eine Brille verpasst bekommst und zum ersten Mal klar und deutlich siehst, was Sache ist.«
    Martha greift über den Tisch hinweg nach Linas Hand. »Ich weiß, das ist alles sehr schwer für dich …«, sagt sie, und ihre Tochter entdeckt etwas in dieser leisen Stimme, das sie nie mit der Mutter in Verbindung gebracht hat. Zärtlichkeit. »… aber vielleicht wird es ein wenig leichter, wenn du verstehst, dass ich jetzt glücklich bin. Glücklicher als all die Jahre zuvor.«
    Lina zieht die Hand weg. Erst jetzt merkt sie, wie viel Angst sie eigentlich vor dem Wiedersehen gehabt hat. Sie spürt, dass ihre Mutter die Wahrheit sagt, aber dass sie eben genau vor dieser Wahrheit Angst hat. Als ob sie zum Einsturz brächte, worauf sie ihr bisheriges Leben gebaut hat.
    Nun legt Lina ihre nächste Frage auf den Tisch. Auch eine, die sie seit Wochen mit sich herumträgt. »Und was ist mit diesem Mann, Mama?«
    Martha lacht kurz auf. »Du meinst, ob
er
der Grund ist, warum ich glücklich bin?«
    »Ja, auch.«
    »Du wirst Michele kennenlernen. Er schreibt, er macht Yoga, er liebt mich.«
    »Yoga?« Lina runzelt die Stirn.
    »Jetzt sieh mich nicht so entgeistert an.«
    »Aber für so was hattest du früher nie einen Sinn.«
    »Ich hatte für vieles keinen Sinn. Am wenigsten für mich selbst.«
    »Ich hab’s auch mal probiert«, sagt Lina plötzlich.
    »Ach, das wusste ich ja gar nicht.« Jetzt sieht Martha ihre Tochter überrascht an.
    »Du weißt eben auch nicht alles über mich«, entgegnet Lina, und zum ersten Mal an diesem Tag lächelt sie. Ein Lächeln, das nur kurz aufblitzt, bevor es sofort wieder verschwindet. Was wissen wir überhaupt voneinander?, durchfährt es sie.
    »Michele unterrichtet sogar Yoga«, erzählt Martha. »Verglichen mit ihm bin ich steif wie ein Brett. Aber trotzdem – ich glaube, es liegt mittlerweile am täglichen Training, dass es mir noch

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