Das unendliche Blau
haben verstanden. Darauf kommt’s an.« Er eilt ihr voraus zur Tür, die er öffnet, um sie hinauszulassen.
»Guten Flug«, sagt er.
Sie nickt ihm zu, und dann tritt sie mit dem schwarz-weißen Paket hinaus ins Freie.
Sie wendet sich nach rechts, passiert einen kleinen Platz mit einer großen Kirche. Ein paar Bänke stehen davor, unter Bäumen, wo irgendwer gut ein halbes Dutzend leere Weinflaschen abgestellt hat. Die Hinterlassenschaft einer Nacht.
Als Martha zur Piazza Santo Stefano kommt, steht die Sonne schräg und bescheint die Säulen links von der Kirche, gegenüber den Cafés, die jetzt bereits im Schatten liegen.
Sie setzt sich auf die Mauer und spürt durch ihren Mantel hindurch die Restwärme des Tages. Die Hutschachtel stellt sie zu ihren Füßen ab. Sie holt eine Zigarette aus ihrer Tasche und fragt ein Pärchen, das neben ihr auf den Steinen sitzt, nach Feuer. Die zwei unterhalten sich auf Deutsch, aber Martha fragt auf Italienisch. Sie belauscht gern Gespräche, und die Chance, etwas zu erfahren, potenziert sich, wenn sie ihre Nationalität nicht preisgibt. Auf ihren Reisen in England und Frankreich und Amerika wurde sie auf diese Weise oft Zeugin zwischenmenschlicher Komödien und Tragödien, je nachdem. Eine Diebin schöner Geschichten, hat Hans sie mal genannt, als sie ihm davon erzählte.
Kurz streifen ihre Gedanken Hans, diesen Abend gestern mit ihm, in einer Trattoria, wo das Essen einfach und billig und gut war und der Wein in Halbliterkaraffen ungefragt nachgeliefert wurde, sobald der Inhalt ihrer Gläser zur Neige ging. Sie aßen und tranken und redeten. Ein Mann und eine Frau, die einmal Mann und Frau gewesen waren. Das erste Tête-à-Tête nach elf Jahren, von dem sie beide wussten, dass es das letzte war.
Martha legt die Gedanken an den Abend beiseite, vorerst.
Der Mann neben ihr holt sein Feuerzeug aus der Tasche, dreht an dem Rädchen und hält ihr die Flamme hin.
»Grazie«, sagt sie, nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch aus. Sie schlägt die Beine übereinander, die in schmalen hellgrauen Jeans stecken. Schlanke Beine mit Stiefeln, die übers Knie reichen. Kauf sie, hatte Michele zu ihr gesagt, als sie zögerte. Bin ich für so was nicht zu alt?, fragte sie und runzelte die Stirn. Er nahm ihr wortlos die Schuhe aus der Hand und trug sie zur Kasse. Jetzt gefallen ihr die Stiefel, und sie trägt sie fast täglich. Das Wetter ist herbstlich geworden. Die Schuhe werden die Schritte begleiten, die Martha noch bleiben.
Der Mann und die Frau neben ihr sprechen über Vorlesungen und Seminare an der Universität; sie studiert Jura, er irgendwas mit Wirtschaft. Sie sind sich einig darin, dass sie Bologna cool finden. Und dass sie sich gut fühlen, gut und frei, fernab von Deutschland und ihrem Elternhaus. Irgendwann verlegen sie sich auf Pläne. Solche für die nächsten Stunden und solche fürs Leben.
Sie sind noch nicht wirklich ein Paar, denkt Martha. In der Art, wie sie miteinander umgehen, liegt etwas Tastendes. Als wollten sie Möglichkeiten ausloten. Das ewige Spiel vom Suchen. Und die Freude, wenn man sie findet, die Gemeinsamkeiten, in der Hoffnung, sie mögen tragfähig sein. Eine Brücke zwischen zwei Menschen, schnell zusammengezimmert an einem Nachmittag, bei einer Zigarettenpause auf der Mauer einer Piazza. Eine Brücke, auf die man seine Träume legt. Mutig, zweifelsohne, aber wer braucht schon die Gesetze der Statik, wenn er mit Intuition ausgestattet ist? Dieser Währung, die alle Liebenden in ihren Taschen tragen. Na ja, manchmal haben die Taschen Löcher, aber bevor man das merkt, befindet sich das Herz oft schon im freien Fall. Doch es gibt auch andere Fälle. Glücksfälle. Sie legen sich einem zu Füßen, und man muss nichts anderes tun, als sich zu bücken und sie aufzuheben.
Martha sieht zu ihren Füßen, zu der schwarz-weißen Hutschachtel. Die Hutschachtel mit dem kleinen Spielzeug-Fesselballon. Dann wandert ihr Blick über den Platz, auf dem nun ein alter Padre steht, im Gefolge einige junge Männer, denen er mit ausladenden Gesten Geschichten erzählt. Es scheinen lustige Geschichten zu sein, denn es wird viel gelacht. Der Geistliche schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn, als habe ihn gerade ein Geistesblitz getroffen. Es könnte auch so eine Art Wink Gottes gewesen sein.
Martha fällt ein, dass Michele ihr kürzlich erzählt hat, Bologna sei die einzige Stadt Italiens, in der es eine Via Paradiso und eine Via dell’Inferno gebe. Sie bestand
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