Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
Vom Netzwerk:
darauf, mit ihm erst in die Hölle und dann ins Paradies zu gehen. Ungefähr zwanzig Minuten Fußweg liegen zwischen beiden. Die Hölle befand sich im alten Judenviertel; es war dunkel dort und feucht, und es roch nach Abfällen und Urin. Und das Paradies? Die Gasse erwies sich als eng und ebenfalls düster und hatte außer ein paar Geranientöpfen vor den Fenstern wenig zu bieten.
    »Und was sagt uns das?«, fragte Michele und lachte.
    »Vielleicht dass das, was wir für das Paradies halten, der Hölle manchmal ziemlich nahe kommt«, entgegnete Martha. Sie wirkte für einen Moment abwesend, doch Michele holte seinen Fotoapparat heraus, stellte sie unter das Straßenschild und drückte auf den Auslöser, direkt neben ihrem Kopf befand sich der Hinweis, dass es sich um eine Einbahnstraße handelte. Danach bogen sie von dort in die Via San Felice ab. Eine Straße mit hübschen Läden und gemütlichen Bars. Und sie freuten sich, dass wenigstens das Glück am richtigen Ort zu Hause war.
    Als sich der Padre auf der Piazza Santo Stefano jetzt Richtung Kirche in Bewegung setzt, folgt ihm die kleine Gruppe. Martha beobachtet die etwa zwanzigjährigen Jungs, die meisten von ihnen in Jeans, viele mit hübschen Lockenköpfen. Fast scheinen sie um die Gunst des Alten zu buhlen. Werden auch sie eines Tages Priester werden? Sich dem Zölibat ausliefern und niemals die Beine einer Frau streicheln? In eine Zelle gehen und die Tür zu ihrer Lust fest verschließen – um dann doch irgendwann mit Schuldgefühlen die Beulen in ihren Jeans zu betrachten?
    Martha sieht den jungen Männern nach, die einer nach dem anderen vom Kirchentor verschluckt werden.
    Warum muss sie gerade jetzt an Verzicht denken? An Wünsche, die da sind und die man sich trotzdem untersagt? Vielleicht weil ihr die Liebe noch einmal in den Schoß gefallen ist und sie die letzten elf Jahre plötzlich in einem völlig anderen Licht sieht. Jahre auf kleinster Flamme, wie bei einem Gasherd, den Knauf weit nach links gedreht, bis zum Anschlag, bis zum absoluten Minimum. Was da brannte, reichte allenfalls, um die Suppe lauwarm zu halten. Das tat sie, jahraus, jahrein, Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Sorgfältig darauf bedacht, sich nicht die Finger zu verbrennen. Und jetzt? Hat sie aufgedreht, und zwar richtig. Hat ihre Gefühle an den Siedepunkt gebracht und weit darüber hinaus. Was da nun kocht, ist heiß und schmeckt. Sie kann nicht genug davon bekommen, und sie weiß, dass man ihr das ansieht.
     
    »Du siehst hinreißend aus«, sagte Hans denn auch gestern zu ihr. Er sagte es nach dem dritten Glas Wein, und er sah ihr dabei direkt in die Augen. Als er seine Hand auf ihre legte, zuckte sie nicht einmal. Sie ließ alles an seinem Platz. Sie ließ sogar zu, dass sein Zeigefinger langsam über ihren Daumen strich, und irgendwann bewegte sich dieser Daumen, als würde er nicht ihr gehören und hätte beschlossen, sein eigenes Ding zu machen – er nahm Kontakt auf mit dem Zeigefinger, der da so beharrlich um ihn warb.
    »Es heißt ja immer, dass man noch mal aufblüht, bevor’s zu Ende geht«, erwiderte Martha.
    »Du bist erstaunlich.«
    »Warum? Weil ich dabei bin zu sterben?«
    Er lehnte sich zurück, und dabei achtete er sorgfältig darauf, dass die Zeigefinger-Daumen-Allianz hielt. Eine Weile sagte er nichts. »Nein, das meine ich nicht«, entgegnete er schließlich.
    »Was meinst du dann?«
    »Du überraschst mich.«
    »Das hast du schon mal anders gesehen.«
    »Du warst für mich immer …« Er brach ab, suchte nach Erklärungen.
    »Ich war für dich so was wie ein offenes Buch«, fiel sie ihm ins Wort. »Allerdings eines, das dich nach den ersten Kapiteln nicht mehr sonderlich interessierte.«
    Er zog seine Hand abrupt weg, ballte die Faust und schlug mit ihr auf den Tisch. Die Weingläser zitterten. »Kannst du nicht einmal damit aufhören, Martha?« Seine Stimme war so laut, dass die zwei Pärchen an den Nebentischen zu ihnen herübersahen.
    Sie zuckte zusammen. »Womit?«
    »Mit deiner verfluchten Selbstgefälligkeit.« Er betonte jedes Wort.
    »Bitte, Hans, nicht so laut.«
    »Ach, Gott. Das ist mal wieder typisch. Kaum zeige ich Gefühle, pfeifst du mich zurück. Weißt du was? Die Leute hier sind mir scheißegal.«
    Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf.
    Er erhob sich ebenfalls, fasste sie an den Schultern und drückte sie wieder auf ihren Stuhl zurück. »Du bleibst hier.« Er winkte der Kellnerin zu. »Noch einen halben Liter,

Weitere Kostenlose Bücher