Das unendliche Blau
von Bitterstoffen nicht mehr. Sie verderben einem alles. Wird Zeit für was Süßes, wenigstens zum Schluss.«
»Ich hätte damals einfach nicht sofort alles hinwerfen sollen.«
»Hans, bitte, verschon uns damit. Keine Reue zum Ausverkauf. Das ist zu billig.«
»Schon gut. Aber ich hab viel nachgedacht in den letzten Wochen.«
»Das bringt nichts.«
»Was?«
»Diese Rückschau. Wir sind nicht auf dieser Welt, um alles richtig zu machen. Wir machen Fehler, gehen uns selbst auf den Leim, belügen uns, und während wir das alles tun, gehen wir weiter. Wir sind ohne Unterlass auf der Reise. Manchmal haben wir sogar unsere großen Momente. Du und ich, Hans, wenn das nicht gewesen wäre, gäbe es jetzt Lina nicht.«
Sie bemerkte, dass seine Augen feucht wurden, und redete schnell weiter. »Ich versuche gerade, meinen Frieden mit der Vergangenheit zu machen.«
»Kann man das so einfach?«
»Es ist schwer zu erklären.«
»Probier’s trotzdem.«
»Unsere Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Ohne sie säßen wir zwei nicht heute hier. Hier in dieser Trattoria. Sie hat uns an diesen Ort geführt. Sie leuchtet quasi die Gegenwart aus und wirft ihren Lichtkegel in die Zukunft. Wir hadern zu oft mit dem, was gewesen ist, meinen, alles hinter uns lassen zu müssen.«
»Aber ist das nicht wichtig, um weiterzukommen?«
»Blödsinn. Dieses große Abhaken ist ein großer Beschiss. Nur wenn wir zulassen, dass sich die Vergangenheit wie eine Decke um unsere Schultern legt, können wir im Jetzt ankommen.«
Er schwieg, und seinen Stirnfalten sah sie an, dass er versuchte zu begreifen, was sie gesagt hatte. Irgendwann räusperte er sich: »Das klingt alles so klug, so ausformuliert und … ja, so furchtlos.«
»Ich hatte viel Zeit nachzudenken, Hans. Manchmal schreib ich meine Gefühle auch auf, um sie besser greifen zu können. Als ich nach Bologna kam, hatte ich noch keinen Plan. Ich bin regelrecht getürmt aus meinem alten Leben. Da war diese Diagnose, da war mein Geburtstag, da war die nackte Angst. Ich wusste nur, dass etwas anders werden musste, aber ich hatte keine Ahnung, was mich eigentlich hier erwartete.«
»Ziemlich mutig.«
»Man nennt das auch Mut der Verzweiflung.«
»Du musst dich verdammt allein gefühlt haben.«
»Nein, das war’s gar nicht. Ich war sogar zu leer, um so was wie Alleinsein überhaupt wahrzunehmen. In mir saß die Panik, und die hat alles andere verdrängt. Ich sag dir, Panik kann ziemlich raumgreifend sein, sie frisst deiner Seele die letzten Haare vom Kopf.«
»Na ja, du hattest trotzdem die Kraft aufzubrechen.«
»Weißt du, was Martin Walser mal gesagt hat? Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße. In meinem Fall war’s das Gaspedal, das ich durchgetreten habe. Und plötzlich hab ich so was wie ’ne Straße wahrgenommen.«
»Warum gerade Bologna?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich hab auf einer Dienstreise eine Frau kennengelernt, und die hat mir beim Abschied den Kassenzettel eines Supermarkts mit ihrer Telefonnummer in die Hand gedrückt. Tja, und hier bin ich.«
»Und willst du bleiben? Ich meine, bleiben bis …?«
»… zum Schluss? Ja! Ich wüsste nicht, wo ich jetzt noch hinsollte. Zurück an einen Ort, der schon lange nur noch die Illusion von Zuhause war? Weg von Michele? Das wäre doch verrückt.«
»Lina hat gehofft, dich wieder mit nach Deutschland nehmen zu können, denke ich zumindest.«
»Ich weiß. Ein Kind will nicht, dass die Mutter stirbt. Und das Elternhaus scheint da eine Art letzter Schutzraum. Aber du und ich, wir wissen, dass das Kinderglaube ist.«
Er zögerte. »Meinst du,
sie
hat das verstanden?«
»Keine Ahnung.« Martha machte eine Pause, in der sie der Kellnerin hinterhersah, die gerade ein Tablett mit Tellern zwischen den Tischen hindurchbugsierte. Eine junge Frau mit einem großen Hintern, der in einem etwas zu engen und etwas zu kurzen schwarzen Rock steckte. Der Rock warf Falten, und er lenkte die Blicke einiger Männer auf sich.
»Lina hat ja noch dich, Hans.« Marthas Stimme war im Begriff unterzugehen in dem Lachen und Reden und Gläserklirren ringsum. Er hörte sie trotzdem. »Und das aus deinem Mund …«
»Mich verlassen die Kräfte. Ich müsste mehr mit ihr reden. Es gäbe so viel zu erklären, zu tun, nachzuholen, aber ich kann nicht mehr. Mir fällt es schon schwer, morgens aus dem Bett zu kommen. Die Infusionen und Tabletten, die ich kriege, stabilisieren mich bislang einigermaßen, aber
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