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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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sie machen auch müde. Ich beginne, Dinge durcheinanderzubringen. Und Lina fordert meine ganze Konzentration.«
    »Sie kann anstrengend sein, ich weiß.«
    Martha lächelte. »Allerdings. Sie ist wütend auf mich, auf den Krebs, auf Michele, der ihr die Mutter entzieht, was weiß ich? Das kann ich ja alles verstehen, aber in mir meldet sich etwas, das mir bislang völlig fremd gewesen ist.«
    »Du denkst an dich?«
    »Ja, das mag egoistisch klingen, aber ich will meine letzten Tage nicht damit verbringen, mit meiner Tochter herumzustreiten. Ich schaff das nicht. Und vermutlich könnten wir sowieso nicht alles klären. Wie denn auch, in ein paar Tagen? Das ist, als ob du kurz vor Ladenschluss in einen Supermarkt hetzt, um deinen Einkaufswagen richtig vollzuladen. Die Kassiererin schaut bereits ungeduldig auf die Uhr, weil sie Schluss machen will. Klar, dass du da die Hälfte vergisst. Und während sie hinter dir die Rollläden runterlassen, weißt du schon, was alles fehlt. Lina wird sich den Rest allein besorgen müssen.«
    »Soll ich mit ihr reden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Vielleicht später mal, wenn ich nicht mehr bin. Es ist besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wir werden es sowieso nicht schaffen, alles in Ordnung zu bringen. Du und ich genauso wenig wie Lina und ich. Also nehmen wir einfach das, was ist.«
    »War es ein Fehler herzukommen?«
    »Im Gegenteil. Aber zu glauben, wir könnten unsere Familiengeschichte mal eben an einem Abend beim Essen reparieren, das wäre ein Fehler. Du hast noch ein paar Jahre vor dir und die Chance, ein bisschen was anders zu machen. Lina wird ihren Weg gehen, und wenn ihr zwei es schafft, euch zusammenzuraufen, könnte ich mit leichterem Gepäck abtreten. Lassen wir es also gut sein.«
    »Dabei warst gerade du es immer, die früher alles bis zum bitteren Ende diskutieren wollte.«
    »Der Blick aufs Ende verändert sich, wenn es plötzlich direkt vor einem steht.« Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wie wär’s zum Schluss mit einem Dessert?«, fragte sie. »Die haben nur zwei zur Auswahl hier, Panna cotta oder Torta al cioccolato.«
    Sie wählten den Schokoladenkuchen.
    Als sie gingen, hakte sich Martha bei Hans unter. Sie bestand darauf, ihn zu seinem Turm zu bringen. In den Arkaden hing dichter Novembernebel, der die Deckenlaternen mit einem sanften Schleier umgab. In einigen Straßen hatte man bereits die Weihnachtsbeleuchtung angebracht. Sterne und Sternschnuppen.
    Nach etwa zehn Minuten waren sie am Ziel. »Eigentlich hätte ich
dich
nach Hause bringen sollen«, meinte Hans.
    »Das wäre ein Umweg gewesen«, erwiderte sie.
    Er kramte umständlich den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Dann sah er sie an. Ein Blick, der sich Zeit nahm. »Ich hab das Gefühl, es gäbe noch so viel zu sagen, Martha.«
    »Wir haben geredet. Das allein zählt.«
    Er fasste sie bei den Schultern und zog sie zu sich heran. Seinen Kuss setzte er auf ihre Stirn.
    Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, drehte sich um und ging in die Nacht.
     
    Das Pärchen, das neben Martha auf der Mauer sitzt, steht auf. Der Mann zieht die Frau nach oben, und für einen kurzen Augenblick hält er ihre Hand. Allein diese Berührung setzt ein kurzes Leuchten in ihr Gesicht. Sie werden sich heute noch in den Arm nehmen, denkt Martha. Sie werden sich küssen. Sie werden das Spiel eröffnen, das sich Liebe nennt.
    Der Mann nickt ihr zu, als sie gehen. Martha nickt zurück, und ihre Blicke begleiten die beiden, die nun nebeneinander über die Piazza schlendern, darauf bedacht, ihre Schritte einander anzupassen. Sie gehen vorbei an dem Barbier, der in seiner weißen, akkurat sitzenden Jacke vor seinen Laden getreten ist, um eine Zigarette zu rauchen.
    Martha hat ihm oft von ihrem Aussichtspunkt auf der Mauer zugesehen, wie er seine Kunden einlädt, auf den breiten gepolsterten Frisiersesseln Platz zu nehmen, und ihnen mit elegantem Schwung den großen weißen Umhang um die Schultern wirft. Er arbeitet akribisch mit Kamm und Schere, und wenn er die Männer rasiert, benutzt er einen dicken Pinsel, und danach setzt er das Messer an und zieht die feine scharfe Klinge mit geübtem Griff über Wange und Kinn und Hals, dorthin, wo die Halsschlagader nur noch Millimeter entfernt ist. Nie scheint seine Konzentration nachzulassen, denn er weiß genau: Wenn sie ihm den Dienst quittiert, diese Konzentration auf das Wesentliche, könnte das blutig enden.
    Kurz nachdem Martha in Bologna

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