Das Ungeheuer
hingezogen gefühlt hatte.
»Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen, Mrs. Frank. Bitte, kommen Sie doch herein!« Er hielt ihr die Tür auf und führte sie in sein mit Büchern vollgepacktes Arbeitszimmer. Sie ließ ihren Blick bewundernd durch den Raum schweifen. »David hat in diesem Raum viele Nachmittage verbracht«, sagte Mr. Arnold.
Marsha fühlte, wie Tränen in ihr hochstiegen. Es machte sie ein bißchen traurig, daran zu denken, was es alles in Davids Leben gegeben hatte, von dem sie nichts wußte. Sie faßte sich rasch wieder.
Nachdem sie sich bei Mr. Arnold bedankt hatte, daß er sie empfangen hatte, kam Marsha sofort zur Sache und erklärte ihm, warum sie so daran interessiert gewesen sei, ihn aufzusuchen. Sie fragte ihn, ob David mit ihm jemals über VJ gesprochen habe.
»Ein paarmal«, antwortete Mr. Arnold. »David gestand mir, daß er vom ersten Tag an Probleme mit VJ gehabt habe. Das ist eigentlich nichts Unnormales, aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich hatte das Gefühl, daß der Konflikt in diesem Fall weit über die normale Rivalität zwischen Geschwistern hinausging. Ich versuchte, ihm Genaueres zu entlocken, aber David wollte nicht darüber reden. Ich glaube, man kann das Verhältnis, das wir hatten, durchaus als vertrauensvoll bezeichnen, aber in diesem einen Punkt wollte er sich mir nicht öffnen.«
»Er hat sich nie näher über seine Gefühle zu VJ oder über die Art der Probleme, die er mit ihm hatte, geäußert?«
»Nun ja, irgendwann mal hat er mir gestanden, daß er Angst vor VJ habe.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Ich hatte den Eindruck, daß VJ ihn irgendwie bedrohte«, sagte Mr. Arnold. »Das war das einzige, was aus ihm herauszubekommen war. Ich weiß, daß das Verhältnis zwischen Brüdern kompliziert sein kann, besonders in dem Alter. Aber offen gesagt, ich hatte ein ganz ungutes Gefühl, was Davids Probleme mit VJ betraf. David schien sich regelrecht verfolgt zu fühlen - so verängstigt, daß er nicht wagte, darüber zu reden. Schließlich bestand ich darauf, daß er die Schulpsychologin aufsuchte.«
»Hat er das gemacht?« fragte Marsha. Das war das erstemal, daß sie davon hörte, und es verstärkte noch ihr Schuldgefühl.
»Ja, das hat er«, antwortete Mr. Arnold. »Ich wollte das eigentlich gar nicht erzählen. David war ein sehr außergewöhnlicher ... « Mr. Arnold schluckte; eigentlich war es eher ein Schluchzen. »Nun, tut mir leid«, sagte er nach einem kurzen Moment des Schweigens. Aber Marsha war tief gerührt von dieser so offensichtlichen Gefühlsäußerung. Sie nickte, selbst bewegt.
»Ist diese Psychologin noch an der Schule tätig?« fragte Marsha.
»Madeline Zinnzer? Ja. Sie ist so etwas wie eine Institution hier. Sie ist länger hier als jeder andere.«
Marsha machte sich Joe Arnolds Gastfreundlichkeit zunutze, indem sie ihn bat, für sie bei Madeline Zinnzer anzurufen und sie zu fragen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie sie gleich aufsuchen würde. Sie hatte nichts dagegen. Marsha bedankte sich herzlich bei Joe Arnold.
»Das war doch selbstverständlich«, sagte Arnold und drückte ihre Hand mit besonderer Herzlichkeit. »Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Wirklich, jederzeit.«
Madeline Zinnzer sah auch aus wie eine Institution. Sie war groß und wog bestimmt zwei Zentner. Ihr graues Haar war durch Dauerwelle zu kleinen Kringellocken gekraust. Sie führte Marsha in ein gemütliches, geräumiges Wohnzimmer, dessen Fenster einen wunderschönen Ausblick über das Gelände der Pendieton Academy bot.
»Eines der Privilegien für meine lange Zugehörigkeit zur Lehrerschaft«, sagte Mrs. Zinnzer, Marshas bewundernden Blick bemerkend.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht allzusehr, daß ich am heiligen Sonntag hier bei Ihnen hereinschneie«, begann Marsha.
»Absolut nicht«, versicherte Mrs. Zinnzer.
»Ich habe da ein paar Fragen bezüglich meiner Kinder, bei denen Sie mir vielleicht weiterhelfen können.«
»So etwas hat Joe Arnold bereits angedeutet«, sagte Mrs. Zinnzer. »Leider erinnere ich mich nicht mehr so gut an Ihren Sohn wie Joe Arnold, der ja ein ganz besonders persönliches Verhältnis zu David hatte - aber ich habe eine Kartei, die ich sofort durchgegangen bin, nachdem Joe mich angerufen hatte. Was möchten Sie wissen?«
»David erzählte Mr. Arnold, daß VJ, sein jüngerer Bruder, ihn bedroht hätte, aber mehr wollte er Mr. Arnold nicht darüber sagen. Haben Sie vielleicht mehr aus
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